WAS IST MIT „VERRÜCKTER WEISHEIT“ GEMEINT, UND WO IST IHR PLATZ IM BUDDHISMUS?
Was in den 70er Jahren in Amerika als „Verrückte Weisheit“ bekannt wurde, entstand in den starren und zuhöchst bürgerlichen Gesellschaften Asiens. Hier suchten geistige Lehrer manchmal nach Methoden, um ihre Schüler aus ihren festen kulturellen und psychologischen Mustern zu schocken, und sie zu zwingen, sich ungewohnten Lagen zu stellen. Dies konnte sehr wirksam sein, wenn das Band zwischen Lehrer und Schüler hielt und es eine förderliche Umgebung dafür gab. Im Tibetischen Buddhismus brachten große Verwirklicher wie Drukpa Künleg und andere Lamas ihre Schüler in Lagen, die ihre gewohnheitsmäßigen Welten auflösten und neue Seiten ihrer ihnen innewohnenden Möglichkeiten eröffneten. Sehr oft bedeutete das, die vielen körperlichen Tabus asiatischer Kulturen zu brechen.
Es gibt auch heute noch sehr viele solcher Tabus, und indem sie ihre Schüler manchmal dazu brachten, sich zu entkleiden, sich öffentlich albern zu benehmen oder in wilde Lagen zu kommen, konnten Lehrer der so genannten „Verrückten Weisheit“ den Leuten tatsächlich einen Geschmack ihrer ihrem Wesen innewohnenden Freiheit vermitteln. Der Schock, sich in einer neuen Lage zu befinden, in der sie nicht mehr auf ihre gewohnten Werte vertrauen konnten, war mitunter umwerfend, und es war Charakter formend, Freundschaft und Zusammengehörigkeit in der Gruppe oder letztendlich dem Raum selbst vertrauen zu müssen. Es gab aber auch Fälle, in denen es völlig schief ging, weil der Segen fehlte und feste Vorstellungen gegenüber Verhalten und Gesicht wahren den Vorrang behielten.
Ähnliches geschah auch im Westen. Das bekannteste Beispiel war Dharmadhatu, die Organisation von Trungpa Tulku. Als er in den späten 70ern erst nach England kam und dann später wegen Hasch nach Amerika floh, war er der Halter einer solchen „Schock-Therapie“-Linie. Seine Lehrer in Tibet hatten ihm beigebracht, den Leuten unerwartete Lagen gegenüberzustellen, aber für eine Generation von Hippies, die sowieso schon jede wahrnehmungsverändernde Droge geschluckt hatte, war das nicht besonders beeindruckend. Das Vertrauen in Lamas und Tibet war aber sehr stark. Er schaffte es deswegen vor allem, sie von Drogen abzubringen – und stattdessen übergewichtige Trinker zu werden.
Mit einem bekannt gewordenen Fall über den Einsatz seiner Mittel störte der Lama einige Asiaten reichlich. Im Harper’s Bazaar Magazine erschien damals ein Bericht über einen ungewöhnlichen Skandal:
Bei einer von ihm geleiteten Trinkzeremonie waren alle nackt, wie man es sich im Hof eines Reinen Landes vorstellen konnte. Ein asiatisches Paar, das zu Besuch kam, war erschüttert. Das richtige Drama entwickelte sich aber erst, als Trungpa Tulku darauf bestand, dass sie sich ebenfalls ausziehen, da sie nun das Kraftfeld betreten hätten. Sie rannten verschreckt eine Treppe hoch und schlossen sich in einem Raum ein. Sichtlich betrunken, aber mit der triftigen Motivation, dass ein magischer Kreis – ein Mandala – nicht gebrochen werden darf, schickte Trungpa Tulku seine Leute hinterher. Sie brachen die Tür auf, brachten das Paar zurück und zwangen sie, wie die anderen am Fest teilzunehmen. Als die Sache bekannt wurde, schmunzelten viele. Der Buddhismus verlor aber bei einigen puritanischen Amerikanern und bei vielen Asiaten an Ansehen.
Je steifer eine Gesellschaft ist, umso mehr Bedeutung haben Schock-Methoden – und je freizügiger Menschen leben, umso weniger wichtig ist es, die ohnehin kaum vorhandenen Tabus zu brechen. In Tibet schnitten sich die Verwirklicher, die Yogis, oft weder Haare noch Nägel und trugen weiße Roben. Das machten sie um für mögliche Unterstützer erkennbar zu sein. Der Grund dafür war, dass die rote Lobby – die Mönche und Nonnen – sehr massiv auftraten und fast alles für sich nahmen. Die heutigen Sozialstaaten unterstützen aber jeden gleichermaßen, und bei Rock-Konzerten sieht man jede Menge von langen Haaren. Einige Leute, die glauben, Haile Selassie aus Äthiopien sei Jesus, kämmen sich auch nicht mehr, und unzählige weitere exotische Verhaltensweisen tauchen die ganze Zeit auf. Aus all diesen Gründen haben extreme Kleidungs- und Verhaltens-Stile im Westen immer weniger Bedeutung. In den alt hergekommenen östlichen Gesellschaften können sie aber ziemlich ernst genommen werden und das allgemeine Bild von einem Volk für lange Zeit zeichnen.
Was kann ein zeitgenössischer Buddhist von Drukpa Künleg lernen?
Es kommt darauf an, auf welche Teile seines Lebens man sich bezieht. Der Tibeter, der das Buch übersetzte, kam mit dem Manuskript zu Hannah und mir, und fragte, welche Geschichten er in das Buch aufnehmen sollte. Danach übernahm ein alter Freund von uns aus den frühen 70ern im Ost-Himalaya, Keith Dowman, das Manuskript für den „Heiligen Narr“. Aber offenbar nicht zur vollen Zufriedenheit des Tibeters, wie wir hörten.
Wie auch immer, zu der Zeit schien insbesonders eine reine Sicht vom Geschlechtsleben ein Ziel des Buddhismus zu sein. Die Geschichten von Drukpa Künlegs sexuellen Begegnungen wurden besonders hervorgehoben. Natürlich ist es immer wundervoll, wenn Leute die Kraft ihrer körperlichen Anziehung nutzen, um Freude ohne Enge zu teilen, als Geschenk an andere.
Es gab aber auch mehrere andere Geschichten unter den Übersetzungen, die zum Bild seiner bäuerlichen Zeit gehören.
Hier eine besonders ungehobelte, die ich ins Buch mit aufgenommen hätte: Einmal kam Drukpa Künleg in ein Tal, in dem es lange Zeit nicht geregnet hatte. Die Leute hatten deswegen keine Nahrung und viele hungerten. Er betrat den Marktplatz, machte einen Kopfstand, steckte sich einen großen Trichter in den Hintern und erklärte, dass jeder seinen Tsampa – ihr Hauptnahrungsmittel aus Gerstenmehl – hineinschütten solle. Er hatte wohl eine ausgezeichnete Verdauung, denn er schoss das Mehl mit großer Kraft in die Luft. Kurz danach hatten all diejenigen, die mit vollem Vertrauen alles gegeben hatten, Regen auf all ihren Feldern und eine sofortige Ernte. Die Leute, die die Hälfte zurückbehalten hatten, bekamen nur den halben Regen und die ohne Vertrauen und Einsatz hatten gar keinen Regen.
Meine Vermutung, die zu überprüfen hoffentlich einmal jemand eines Tages Zeit findet, ist, dass Drukpa Künleg ein vorbuddhistischer Fruchtbarkeits-Gott ist, der überlebt hat. So wie der vorchristliche Robin Hood. In kalten Ländern wie Bhutan erzählen die Leute viele und lange Geschichten, wenn sie gemütlich im Heu sitzen um sich gegen die Kälte zu schützen, und wenn man einen anerkannten Marken-Namen hat, an dem man sie aufhängen kann, bekommen sie mehr Gewicht. Es gibt da bestimmt eine Menge Geschichten einzusammeln, und sicher sind einige davon sehr gut.
Für heutige Westler wäre die Lehre daraus, körperlichen Austausch als Brücke zu sehen. Niemand kann jemand anderen besitzen, aber wir können aufregende und lehrreiche Strecken des Weges miteinander teilen. Körperliche Liebe kann den Leuten Selbstvertrauen und Freude schenken und sie erkennen lassen, dass sie anderen Glück bringen können. Die Anziehung an sich stellt ein wesentliches Band zwischen Leuten dar.
Es gibt aber auch Seiten von Drukpa Künlegs Arbeit mit Sexualität, die moderne Frauen wenig schätzen würden. Obwohl er zu einigen seiner Partnerinnen zurückkehrte und auch länger blieb, ließ er einige wohl allein, die seine Nähe gebraucht hätten und sie litten offensichtlich hinterher unter geistigen Schwierigkeiten. Sein erster Auftritt war wohl immer vorzüglich, aber man kann vielleicht sagen, dass es etwas an Wartung mangelte. Heutige Diamantweg-Schüler sind sich sicher bewusst, dass Frauen ihre besten Erfahrungen selten während der ersten Nächte haben. Sie teilen diese, damit sie auf dem Markt bleiben und haben dann später, wenn sie die Männer kennen, ihre besten Freuden. Für sie sind Nähe und Vertrauen wichtig, wohingegen männliche Liebe mehr wie eine Eroberung ist.
Wie war das Verhältnis von Drukpa Künleg und Karmapa? Im Buch werden sie als ebenbürtig in ihrer Verwirklichung beschrieben, aber Karmapa schien nicht so wild und frei wie Drukpa Künleg zu sein. Drukpa Künleg besingt Karmapas Kloster Tsurphu als einen Platz mit neun schlechten Zeichen und betrunkenen Mönchen.
Tatsächlich ist es Karmapa, der ihre Verwirklichungen vergleicht. Wir hören zu dem Thema nichts von Drukpa Künleg, und wie die Tibeter sagen: Man kann einen höheren Gipfel nicht von einem kleineren Gipfel aus überblicken.
Was wir auf jeden Fall lesen, ist, dass Drukpa Künleg das Kloster Tsurphu in Zentral-Süd-Tibet nicht mochte, und auch Hannah und ich mochten es bei unseren Besuchen eigentlich nur wegen seiner Geschichte. Neulich wurde es durch einige äußerst hässliche Standbilder noch unschöner gemacht, und heute ist es ein von Chinesen beherrschter unangenehmer Ort. Es bleibt eine geschichtliche Schwäche der Karma Kagyü Linie, dass wir hingebungsvoll unsere Zentren dort hinbauen, wo jemand Berühmtes meditiert hat. Aber selbstverständlich sind die Stellen, an denen Leute zu diesem Zweck hingehen, so gewählt, dass sie schwierig zu erreichen sind und weit weg liegen, so dass niemand stört. Und dennoch stellt unsere edle Schule, die vielen nutzen sollte, ihre Haupt-Zentren am Ende von finsteren Tälern auf, in denen schwarze Hunde herumlaufen, und nahe Feldern, auf denen die Toten zerlegt werden. Obwohl sie ausgezeichnete Einsamkeit für die Meditation gewährleisten: Sie sind keine geeigneten Plätze für menschliche Begegnungen.
An diesem Punkt waren die Gelugpas klüger. Sie schauten immer erst, wo die Handelswege liefen, die Leute mit Geld wohnten und die Armee-Stützpunkte lagen. Dann bauten sie genau dort ihre Klöster, um die Energie aufzufangen. Das ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass die Gelugpas die Staatskirche Tibets wurden. Die Hingabe begeistert einen: „Oh, hier hat er meditiert und wurde erleuchtet. Lasst uns dasselbe tun!“, wohingegen weisere Leute schnell bemerken, dass die meisten Menschen in den Klöstern sowieso kaum meditieren. Sie machen Verwaltungsarbeit, lernen Texte auswendig, malen Rollbilder, verleihen Geld oder bekommen es zurück. Sie drucken Bücher oder was man sonst so tut an so einem Platz. Die schlauen Leute stellen also ihre Klöster hin, wo sie Sinn machen.
Wie zu erwarten, lobte der 8. Karmapa Drukpa Künleg. Kein Karmapa hat meines Wissens jemals jemanden dumm aussehen lassen. Wenn ein Gast kommt, sagen sie alle erdenklichen guten Dinge über ihn. Auch die Aussage, dass Drukpa Künleg Karmapa in der Freiheit seines Ausdrucks voraus sei, ist offenkundig – denn der 8. Karmapa war ein Mönch. Ein Vergleich mit dem 15. Karmapa hätte hier besser gepasst. Er hatte um ein Dutzend bewusst wiedergeborene Kinder mit mehreren feinen Frauen und erneuerte durch sie die Lehre in Osttibet vor etwa 150 Jahren. Auch der 16. Karmapa hat Besucher immer über sich gestellt, und andere von sich aus zu loben zeigt klar, dass man nichts mehr beweisen muss.
Für jemand ohne Gespür für das, was von 850 Jahren Meditation noch zwischen den Mauerresten und unschönen neuen Gebäuden übrig ist, ist Tsurphu wie gesagt nicht anziehend. Hannah und ich waren 1986 zweimal dort. Das erste Mal sah ich Shing Kyong, den örtlichen Schützer. Er folgte uns den Tag über als ein schwarzer Hund, und beim zweiten Besuch brachten wir ungefähr 50 meiner Schüler zur Arbeit hin. Sie waren vor allem aus Nord- und Zentral-Europa, starke Leute, und wir bauten einen Monat lang an der Stelle. Auf 4,2 Kilometer Höhe trugen wir Steine und Holz für neue Rohbauten. Es war wohl das erste Mal in der Geschichte, dass etwas solches geschah. Sonst kommen überhaupt nur wenig Leute dort hin und heute scheinen die Bewohner des Tsurphu-Tales kein Interesse daran zu haben, was im Kloster geschieht.
Drukpa Künleg erwähnt auch, dass einige Mönche dort alkoholisiert waren, was auch heute eine allgemeine Beobachtung in großen Teilen Zentralasiens und des Himalaya ist. Tatsächlich gelten die Westler, die in einem reifen Alter einem Orden beitreten und die körperlichen und geistigen Bedingungen mitbringen, um die klösterlichen Einschränkungen aushalten zu können, für gewöhnlich als viel disziplinierter wie viele Ostler. Diese haben nicht von sich aus Zölibat und Nüchternheit gewählt, sondern in der tibetischen Gesellschaft wurde ein Kind ins Kloster gegeben, wenn die Familie zu viel Nachwuchs und nicht entsprechend viel Land hatte. Es war zugleich ein wohl angesehener Weg um Einfluss zu gewinnen. Noch dazu: Wenn politische Lamas die Unterstützung einer wichtigen Familie wünschten, „entdeckten“ sie sinnvollerweise oft einen Tulku unter ihren Kindern. Dies war eine Ehre für den ganzen Clan, und alle mussten dann danach dem Lama helfen. Genau dies hatte Tai Situ Rinpoche ausführlich zu Beginn der Karmapa-Frage in hunderten von Fällen getan, und zusammen mit den beharrlichen, aber für die Kagyü-Linie nicht entscheidenden Aussagen des Dalai Lamas ist es der Grund, dass ein großer Teil des Himalaya immer noch den Kandidaten Urgyen Trinle unterstützt.
Gibt es andere berühmte Beispiele für „Verrückte Weisheit“ aus der Kagyü- oder anderen Linien?
Es gibt nicht viele öffentliche Geschichten im Osten. Die Arbeit dort wird vor allem von den freien Übersee-Chinesen unterstützt, und aus diesem Grunde muss alles sehr prüde und anständig sein. Insbesondere die Nyingma-, Sakya- und Kagyü-Linien, die sehr auf Laien bauen, haben aber ständig saftige Geschichten. Sie machen unter Freunden die Runde, haben aber wenig Sinn. Eigentlich ist aus höchster Sicht das Geschlechtsleben nicht nur eine Quelle der Freude, sondern trägt auch Segen. Zum Beispiel ist die tiefe Einsicht, die Frauen schenken, nötig, um die „Termas“ genannten geheimen Belehrungen zu finden und zu heben. Sie haben große Bedeutung und wurden von Guru Rinpoche zwischen 746 und 800 so versteckt, dass sie jetzt erscheinen, wenn eine Offenheit für ihre Lehren besteht.
Auch sind in der höchsten Klasse der Buddhas, dem Maha-Anuttarayogatantra, alle Buddhaformen in sitzender oder stehender Vereinigung, Gesicht an Gesicht, damit die Energiebahnen stimmen. In den unteren Tantras – den Kriya-, Charya- und Yoga-Tantras – erscheinen die Formen aber einzeln. Ohne die Ergänzung von Männlich und Weiblich muss die letztendliche Verwirklichung weniger kraftvolle Wege finden.
Wie zu erwarten, ist diese Ebene höchster Empfindsamkeit in hohem Maße eine Sache der bewussten Frau, hier auf Sanskrit „Dakini“, und auf Tibetisch „Khandro“. Sie begeistert die Männer, segnet sie, verbessert ihre Einsicht und verlässt sie dann, oft um jemand anderen zu beflügeln. Es gibt vielleicht nicht so viele bekannte weibliche Verwirklicherinnen, aber solche Frauen sind und waren höchst beeindruckend.
Ist die Tradition der „Verrückten Weisheit“ noch lebendig?
Ja, ich denke, dass immer mehr meiner Schüler ihre gesunde Fortsetzung werden. Und darüber hinaus bestimmt auch teilweise diese Weisheit die Arbeitsweise unserer Diamantweg-Gruppen. Den eigenen Geist im freien Fall beim (ungefährlichen) Tandem-Fallschirmspringen zu beobachten, wie es einige Tausend unserer Freunde bereits taten, oder Motorrad- oder Autofahren mit ungewöhnlichen Geschwindigkeiten auf kurvigen und wenig befahrenen Straßen, nächtelang zu arbeiten oder feiern tut dasselbe. Jenseits der unnötigen Grenzen für das Leben zu gehen heißt, die Befreiung zu teilen, um die es bei der so genannten Verrückten Weisheit eigentlich geht.
Man könnte sagen, dass meine Folger des Diamantwegs Laien-Buddhisten sind, wenn sie sinnvolle Arbeit verrichten und ihr Geld verdienen. Ihre Sicht ist jedoch grundlegend eine andere, sowohl im täglichen Leben als auch dann, wenn sie im Urlaub von Kurs zu Kurs fahren. Wenn sie die Welt sehen, die Meditation üben und ihren edlen Stil in allen Lagen des Lebens halten, dann sind sie Verwirklicher.
Die Chinesen können das nicht verstehen und unterschätzen uns deswegen oft. Ihre buddhistische Kultur kennt nur Mönche und Laien, und dort sind die Mönche vorne. Im Diamantweg zählt aber der Erfolg in der Dharma-Arbeit mehr als die Kleidung und sie wundern sich deswegen, dass unsere Arbeit ohne Robenträger so erstaunlich wächst. Der 16. Karmapa ist bestimmt davon ausgegangen, dass wir für eine Weile hier sein werden und unter Dampf, und so überließ er Hannah und mir die Arbeit in der westlichen Welt minus Frankreich, und die Verantwortung für den Laien-Buddhismus.
Gendün Rinpoche gab er Frankreich und die Klöster, die dieser seitdem dort erbaute und so vorzüglich und traditionsreich führte. Wenn man im Diamantweg von so etwas wie einer Hierarchie sprechen kann, ist es eine Meritokratie. Wer mehr weiß und tut, hat auch mehr zu sagen und das bedeutet, wie erwähnt, dass die Verwirklicher ganz sicher oben sind. Sie halten die Bänder und die höchste Sichtweise, und wenn diese sicher stehen, dann kommt alles Gute auf der Ebene von Gefühlen und Geschehnissen von selbst. Verwirklicher sind insofern sowohl jenseits als auch in der Welt, wissen einerseits, dass alles wie ein Traum ist und andererseits, dass gute Träume befreien und schlechte die Wesen binden. Und da darüber hinaus die Menschen heutzutage echte Erfahrungen wollen und freiheitliche Länder sie auch zu freiem Denken ermutigen, nutzt es unseren Gesellschaften wirklich, neue Richtungen zu finden. Nur sie bringen Wachstum.
Ist der „Verrückte Weisheits-„Stil nicht etwas übertriebenes, das in unserer sowieso verrückten modernen Welt zu weit geht?
Wie auch immer wir es nennen wollen: Spannung ist für einige Leute anziehend, einfach ihr Lebensstil. Schau bloß in die Welt des Extrem-Sports. Aber alles sollte immer den Wünschen der Leute entsprechen, und vor allem im Bereich des guten Geschmacks bleiben. Nichts zerstört heute eine sonst edle Sache schneller als Peinlichkeiten, gleich ob diese bekannt werden oder nicht.
Die Stärke von Buddhas Lehren ist ja genau, dass sie jedem Möglichkeiten öffnet. Einige führen gerne ein Leben der Ruhe. Für sie eignet es sich, Mönche oder Nonnen zu werden. Viele wollen als Laien Familie und Gesellschaft gestalten. Darüber hinaus verstehen die hellsten Köpfe, dass der Geist alles geschehen lässt und erfährt. Sie zielen deswegen voll auf den Erleber selbst, indem sie ihre Sicht und ihre Vertiefung mit einem Verwirklicher-Lebensstil verbinden. Weil diese drei Menschengattungen immer da sind, gab Buddha die Mittel für drei so verschiedene menschliche Entwicklungswege, und die Verantwortung für das Halten und die Übertragung des Diamantweges liegt bei der dritten Sorte. Wir können uns das leisten! Unsere Länder haben schon ein sehr gutes Sozialnetz und Kirchen, in denen ein Gott den Leuten sagt, was sie tun sollen. Mit dem bewussten Handeln sieht es aber mitunter etwas schlecht aus. Zur Zeit haben die Moslems die Lehren über Karma entdeckt. Sie fühlen sich offensichtlich davon gestört und schreiben sogar Bücher dagegen. Verständlicherweise wollen sie, dass ihr Gott und nicht sie selbst dafür die Verantwortung trägt, wenn sie öffentlich hinrichten, Hände und Füße abschneiden, steinigen oder Frauen unterdrücken. Wo sonst, wenn nicht in der Sicht und der Übung des Diamantweges, würden viele unabhängige und kritische Leute Sinn finden? Aus diesem Grunde dürfen wir nie ängstlich werden. Keiner nimmt uns die Verantwortung für die Welt ab und wir müssen immer denkenden Leuten den Raum bieten, die Weltprobleme in den Augen zu behalten. Selbstverständlich soll nicht vor den Meditationen groß politisch geredet werden, dann kommt der Geist nicht zur Ruhe, aber jedes Zentrum sollte täglich eine begabte und dem Zeitgeist nicht zu krampfhaft nachlaufende Zeitung bekommen, die die zukunftsträchtigen Entwicklungen der Welt kennt.
Wie sollen wir all die fantastischen Geschichten verstehen, zum Beispiel wie Drukpa Künleg einem Dämon mit seinem Penis die Zähne ausschlug?
Es war hoffentlich eine Dämonin und es flogen keine Zähne. Aber Spaß beiseite: Es gibt wirksame Mittel, wie zum Beispiel das Durchschneiden von Gewohnheitsgedanken durch die Silbe „Pei“. Verbunden mit der Vorstellung, dass man Störungen wegräumt, helfen sie oft Leuten, die schon einige Jahre meditiert haben. Andere, die noch nicht genug Abstand zu dem Strom ihrer Gedanken haben, haften aber an solchen Mitteln, machen sie „wirklich“ und sind dann auch an sie gebunden. Um beim Sexuellen zu bleiben: Als Milarepa einmal von starken äußeren Kraftfeldern gestört wurde, stellte er sich überall anziehende Vaginas vor, und leitete sie dorthin. Im Land Bhutan, im Ost-Himalaya, sieht man überall Darstellungen edler männlicher Teile. Sie werden auf die Außenwände der Häuser gemalt oder – geschnitzt aus Holz und oft mit zwei Spitzen – gegen Unfälle an die Kühler der Autos gebunden. Gesunde majestätische, aber auch besonders hässliche Exemplare findet man sogar in den Klöstern, um Dämonen abzulenken. Die Leute sagen, dass Störenergien nicht in die Häuser kommen, wenn sie sie bei den Türen sehen. Stattdessen laufen sie völlig verwirrt umher und sagen: „Was machen die Dinger hier? Sie gehören hier nicht her.“ Indem sie die Penisse umkreisen, um herauszukriegen, was sie hier sollen, machen sie keine Schwierigkeiten. Diese Einstellung auf die Grundlagen des Lebens erscheint unverständlich in Ländern mit Fernsehen, aber sie wird auch von anderen Bergvölkern geteilt. In den Anden heißt es, dass die Leute aus Ecuador 130 verschiedene Wörter für dieses Werkzeug der Zuneigung haben. Ihre Sprache hat vielleicht überhaupt nur 500 täglich gebrauchte Worte, so dass es wirklich bemerkenswert ist. Vielleicht erlaubt ihnen ihr langsamer Lebensstil, viel Zeit im Bett zu verbringen … Es ist sicherlich etwas Kulturelles, und wenn man in Bhutan in seinen nächtlichen Aktivitäten mit Drukpa Künleg verglichen wird, bringt das eher viel versprechende Kontakte als moralistisches Stirnrunzeln.
Ist das eine Art tantrischer Text und sind wir dann bereit dafür, ihn zu lesen?
Lest das Buch mit einem Augenzwinkern und wünscht allen einsamen Damen und faulen Herren die Entdeckung ihres innewohnenden Glücks. Es ist vor allem eine Helden-Geschichte mit mythischen Untertönen. Achtet auch auf die Mischung von Buddhismus und Volkstum, die die manchmal ungeschliffenen Geschichten durchdringt, und stört euch vor allem nicht an dem Ende des Buches. Obwohl es wie auch Marpas Lebensgeschichte den Eindruck vermittelt, er wäre im Alter mürrisch oder schwermütig geworden, ist dies unmöglich auf seiner überpersönlichen Ebene. Er hätte nie eine Zuflucht für andere sein können, wenn er noch schwankende Stimmungen gehabt hätte. Es ist sicher unvermeidbar, dass in geschlossenen Gesellschaften wie Klöstern das Gefühl des Auserwähltseins entsteht. Sonst würden viele die Entbehrungen nicht aushalten. Auch heute hört man die Behauptung, dass nur Mönche über eine bestimmte Ebene hinausgelangen können. Das ist natürlich falsch, sowohl früher als auch heute, und wird deutlich, wenn die Lebensgeschichten von Linienhaltern oft Jahrhunderte nach ihrem Tod gemacht werden. Es fühlt sich dann so an, als wenn ein Moralist etwas eingefügt hätte, mit dem Gedanken: „Du kannst nicht immer Spaß haben, Drukpa Künleg. Tugend wird dich am Ende erwischen.“
„Drukpa“ heißt Drache und deutet darauf hin, dass Drukpa Künleg zur Drukpa Kagyü Schule gehört. Was ist das besondere an dieser Schule und was bedeutet das Symbol des Drachen?
Eigentlich ist es der Feuer-Drache. Es ist ein mystisches Tier, das in Bhutan gelebt haben soll. Seine Eier werden in einigen kleineren Tempeln hervorstehend gezeigt. Obwohl ich solchen Daseinsbereichen auf nicht-körperlicher Ebene begegnet bin und weiß, dass es sie gibt, sehen die Eier für meinen unwissenden Geist aber ziemlich wie Straußeneier aus. Es ist aber nicht so wichtig. Hannah, Caty und ich bereisten das Land mit 70 einflussreichen Diamantweg-Freunden im Frühling 2003, und Feuerdrachen passen völlig in den Rahmen dessen zeitloser Eigenart.
Hat der Name „Drukpa Künleg Kunga Legpa“ eine besondere Bedeutung?
Drukpa Künleg haben wir bereits angeschaut. Kunga ist ein Tulku-Name, er bedeutet „Alles Freude“. Es ist der tibetische Name für Ananda, Buddhas engsten Schüler. Legpa schließlich bedeutet „Glück verheißend“.
Er hat vielleicht auch noch einige weitere Namen im Laufe seines Lebens gesammelt, was tibetische Sitte ist. Der 16. Karmapa tat laufend dasselbe. In dem Maße, wie der eigene Tatbereich im Laufe des Lebens klarer wird, ermöglicht diese Übertragung, dass immer genauere Namen hinzukommen. Die Lebensgeschichte von Guru Rinpoche stockt fast vor den Namen, die er bei jeder Wundertat bekam.
Fühlst du dich selbst als „Verrückte Weisheit“-Verwirklicher?
Wie schon ein paar Mal höflichst angedeutet, trägt der Ausdruck „verrückt“ für Europäer seit unseren Hippie-Jahren keinen befreienden Sinn. „Wild“ würde besser passen, denn die Bewusstheit – die eigene erlebende Mitte – geht nach einiger Zeit nicht mehr verloren, in was auch immer geschieht. Nach dieser Beschreibung würde ich die Frage bejahen. Ich halte die ganze Zeit die Sicht von Bedeutung und Reinheit. Ich sehe in allem und jedem etwas Neues, Begeisterndes und Anziehendes. Das Leben ist ständig frisch. Wer auch immer die Lehren und den Mut hat, in der inneren und äußeren Welt die Ursachen von den Wirkungen zu unterscheiden, und bereit ist, das eigene Verhalten und das der anderen als Ausdruck von Reife zu erkennen, wird lernen durch alles was geschieht. Diese Sicht mit besten Wünschen für alle und starkem Segen einer ungebrochenen Übertragungslinie zu verbinden, ist das Beste.
Hier ein Beispiel für die Kraft der geistigen Einstellung, das der große Lama Kalu Rinpoche 1970 gab: Ein Mann fühlte die ersten Tropfen eines Regenschauers, während er um die Bodhnath-Stupa in Nepal ging. Zugleich sah er eine kleine Buddha-Statue an der Mauer stehen. Er dachte „Der Buddha darf nicht nass werden“ und schaute sich nach etwas um, um ihn zu bedecken, fand aber nur einen alten Schuh. So nahm er ihn dafür. Nach dem Regen entdeckte jemand anders diese Lage der Dinge, und gestört davon, dass jemand einen Schuh über eine Buddha-Statue gestülpt hatte, warf er den Schuh weit weg. Beide sammelten aufgrund ihrer Einstellung gute Eindrücke für das nächste Leben in ihrem Geist an.
Schnelle Motorrad-Fahrten, Sprünge aus voll funktionierenden Flugzeugen aus vier Kilometern Höhe mit einem Rucksack und der Erwartung, dass dieser sich nach einer Minute fröhlicher Akrobatik öffnen wird, zu genießen, ist ein selbst gewählter vornehmer Weg der Verwirklicherschaft. Schwieriger sind die Fälle, die man nicht selbst gewählt hat, bei denen Krankheiten, Verantwortungen, oder Hindernisse das Leben einengen. Unter solchen Umständen eine steife Oberlippe zu halten und Überschuss für andere finden, ist der letztendliche Test der Erfahrungsebene. Sowohl den Geist als auch die Welt unerschütterlich zu kennen, das ist wahre Verwirklicherschaft.
Fragen von Artur Przybyslawski