Start Belehrungen Artikel und Konferenzen Der Frühling wird nicht zum Sommer

Der Frühling wird nicht zum Sommer

75
0

Bertrand_Schutz_1-2.jpg„Warum im Alltag praktizieren?“ heißt es im Titel dieses Vortrags. Ich denke, die Frage stellt sich eigentlich umgekehrt, bei den meisten von uns hat es so angefangen, dass das Leben eines jeden, der Alltag, Fragen aufwirft, die nicht so leicht zu lösen sind.
Nun, der Mensch ist ja sehr erfinderisch: Es gibt eine Frage, ein Problem, man sucht eine Lösung, die Lösung führt in der Regel zu neuen Fragen und so weiter, so funktioniert auch Wissenschaft.

Aber es gibt Fragen, wo diese Art, mit Schwierigkeiten umzugehen, nicht mehr greift: für manche Konflikte – jemand1 sagte einmal, dass ein echter Konflikt dadurch gekennzeichnet ist, dass er nicht gelöst werden kann – oder bei Grundfragen unseres Daseins, wie der des Leidens. Die Lehre Buddhas hat ihren Ausgangspunkt genommen, so überliefert es die Tradition, bei der Frage des Leidens.

Bertrand_Schutz_2-2.jpgVor einiger Zeit war ich in Hamburg bei einem Rundtischgespräch, aus Anlass einer Ausstellung über die Ereignisse um die nationalsozialistische Diktatur, und es ging da um ethische Fragen. Wie verhält man sich in gewissen Situationen? Was gibt es für Maßstäbe, Richtlinien usw. Und da sagte einer der Teilnehmer: „Es gibt zwei Arten von Problemen. Die einen, für die man eine Lösung findet, das sind letztlich technische Probleme. Und es gibt Probleme, die keine Lösung haben. Und diesen Problemen gegenüber kann man nur eine Haltung entwickeln.“2

Da dachte ich mir, dieser Herr hat eigentlich ziemlich genau beschrieben, worum es bei der Zen-Praxis geht, nämlich eine Haltung zu entwickeln. Und ich erzählte das im Dojo und jemand sagte mir: „Ach ja, Haltung bewahren“. Doch darum geht es nicht. Es geht nicht darum, Haltung zu bewahren, sondern eine Haltung zu entwickeln, es handelt sich um ein Tun, eine Dynamik.

Sie wissen ja, es wird überliefert, dass der Buddha auf der Suche nach der Lösung der Grundprobleme alle möglichen Lösungen ausprobiert hat. Seine Zeit und seine Kultur waren sehr reich an Lösungen für grundlegende Probleme, das war in Indien im fünften oder sechsten Jahrhundert vor Christus etwa, und es gab sehr viele Formen von Übungen, von Askesen, die alle natürlich zum Ziel hatten, eine Lösung für die Grundfragen des Daseins zu finden. Und er hat sie alle getestet und für nicht ausreichend befunden, sogar für bedenklich, er ist fast daran zugrunde gegangen, und hat sich schließlich in der Haltung hingesetzt, die man Zazen nennt, und ist in dieser Haltung erwacht. Und diese Haltung wird als der Kern der Praxis des Zen bis heute weitergegeben.

Eine Haltung entwickeln, Dynamik, Beweglichkeit…

springtime1-2.jpgBei fortgesetzter Übung stellt man fest, dass sobald man bei irgendetwas stehen bleibt, stecken bleibt, sei es im Körper oder im Geist, kann man die Haltung nicht lange aufrechterhalten. Der Buddha hat also in dieser Haltung die Lösung seiner Fragen gefunden. Und hat diese Praxis vertieft und weitergegeben. Und sie hat eine wechselvolle Geschichte erfahren, ist von Indien nach China gekommen, von China nach Japan, und jetzt, seit den sechziger, siebziger Jahren, nach Europa, und hat im Laufe dieser Geschichte jeweils ganz bestimmte Prägungen erfahren, im Austausch mit unterschiedlichen Kulturen, und ist doch im Kern gleich geblieben.

Es handelt sich dabei um eine der — vielleicht — wenigen noch lebendigen, mündlichen Überlieferungen. Mündlich insofern, als das Wesentliche, der Kern der Erfahrung weitergegeben wird von Mensch zu Mensch, von Geist zu Geist, von Herz zu Herz, wie man sagt, es handelt sich also um eine weitergegebene Erfahrung. Das scheint vielleicht widersprüchlich, aber es ist weder etwas, was man selbst macht, herstellt, noch etwas, das man von irgendwo oder irgendwem erhält. Sondern es ist etwas, das in einer Kommunikation, in einem Zusammengehen geschieht.

Um weitergegebene Erfahrung, mündliche Tradition – und nicht um metaphysische Überlegungen – geht es hier, doch diese Erfahrung drängt sehr zum Ausdruck und es ist erstaunlich, dass die Literatur des Zen wohl eine der reichhaltigsten unter den spirituellen Traditionen ist. Alle genuinen Werke der Zen-Literatur sprechen eigentlich nur von der Erfahrung von Zazen. Manche sind sehr entwickelt und haben auch interessante philosophische Aspekte, aber letztlich gehen sie auf die Erfahrung zurück.

Sich selbst erkennen heißt sich selbst vergessen

Eine der großen Gestalten des Zen, auf die unsere Schule oft Bezug nimmt, ist Meister Dogen, der im dreizehnten Jahrhundert gelebt hat, in Japan, er war unzufrieden mit den Traditionen, die er dort getroffen hat und ist nach China gegangen, wo er dann der Tradition des lebendigen Zen begegnet ist und die hat er dann nach Japan gebracht.

springtime3-2.jpgUnd dieser Meister Dogen hat in einem seiner wichtigen Werke, dem Genjo Koan, gesagt: „Den Weg ergründen, oder man könnte sagen, erforschen, oder erkunden, heißt, sich selbst erkunden.“ Den Weg – das Wort „Weg“ ist eigentlich ein Begriff aus der chinesischen Tradition, das Tao, womit die Mönche einen Begriff des Sanskrit, „marga“, in China wiederzugeben versuchten, einen Begriff, der soviel wie „Wahrheit“ heißt. Also die Wahrheit suchen, den Weg suchen, heißt sich selbst suchen oder mit dem Weg sich auseinandersetzen, heißt sich mit sich selbst auseinandersetzen.
Das erinnert an das, was wir auch aus der westlichen, abendländlichen Tradition kennen, das: „Erkenne dich selbst!“ von Sokrates. Nun geht es bei Dogen noch einen Schritt weiter: „Sich selbst erkennen heißt sich selbst vergessen.“ Es hört aber dabei nicht auf sondern: „sich selbst vergessen heißt, von allen Lebewesen oder von allem, was im Kosmos überhaupt ist, erweckt, erleuchtet, bestätigt werden“.

Ja, das ist nun eine Dynamik, diese Wahrheit oder dieser Weg, den man sucht, das hat etwas zu tun mit dem, was ich eingangs versuchte zu sagen — die Lösung, die man sucht ist kein Gegenstand, kein Etwas außerhalb von uns selbst. Sucht man etwas, außen, gibt es keine Lösung. Also hier gibt es eine Kehrtwendung, eine Umkehr, statt eine Lösung, einen Gegenstand zu suchen, geht es darum, sich selbst zu erkunden. Was ist das, dieses Selbst? Im Verlauf dieser Erforschung findet man, dass man da auch keinen Gegenstand zu fassen kriegt.

Eine Revolution im eigentlichen Sinn des Wortes

„Sich selbst vergessen“ — durch dieses Ablassen von einem Gegenstand, vor allem in Bezug auf sich selbst, tritt man in Verbindung mit allem, was ist und wird dadurch bestätigt. Es handelt sich also nicht um eine Verneinung, keinen Nihilismus, keine Kasteiung. Man findet allerdings nicht etwas, wo man sagen kann, das bin ich oder das ist die Wahrheit, oder das ist die Lösung. Sondern die Lösung besteht eben in dieser fortwährenden Dynamik.

Das heißt, heraus zu treten aus den Vorstellungen, mit der wir mit unserem Ich-Bewusstsein die Welt einteilen. Bei dieser Einteilung in Gegenstände, in Kategorien gehen wir nämlich davon aus, dass wir einen Standpunkt haben, von dem aus wir nach draußen gucken können. Und wir gehen immer auch davon aus, das wir ein fester Punkt sind und die Erfahrung des Zen, die Erfahrung, die der Buddha gemacht hat – die eine Revolution im eigentlichen Sinn bedeutet, eine völlige Umwälzung — ist eben die, dass es nichts gibt, keinen Gegenstand, der zu finden wäre, der zu finden ist. Aber das heißt nicht, dass es nichts gibt.

Es gibt nicht einen getrennten festen, das ist der Titel des Vortrages, es stammt leider nicht von mir, es stammt auch von Dogen, „Der Frühling wird nicht zum Sommer.“ Es hat nichts zu tun mit dem Klimawandel, keine Angst, Dogen benutzt das als Bild, um die Frage von Leben und Tod zu veranschaulichen. Er sagt, man soll nicht denken, dass das Leben zum Tod wird, oder dass der Tod wieder zum Leben wird.
Aber um im Bild zu bleiben mit den Jahreszeiten, das hat mit unserer Sichtweise zu tun, es wird nicht gesagt, dass es keine Jahreszeiten gibt, es gibt Winter und es gibt Frühjahr. Genauso wie es eine Individualität gibt. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, dass es ein Etwas ist, was beständig ist und in der Zeit sich ändert. Das wird als Grundirrtum gesehen. Wir sind gezeugt worden, wir sind geboren worden, sind gewachsen usw. ja, aber auch physisch, es ist keine Zelle von dir und von mir die gleiche, wie vor zwanzig Jahren. Also wo ist dieses Ich? Aber es ist falsch es zu negieren, es gibt eine Individualität, jeder ist anders, es ist kein Nihilismus, überhaupt nicht, und auch kein Relativismus, deswegen: Frühling ist Frühling und Sommer ist Sommer. Leben ist Leben und Tod ist Tod.

…ohne etwas Besonderes erreichen zu wollen

springtime2-2.jpgDeswegen ist in dieser Praxis der überlieferte Begriff mushotoku ganz zentral – er bedeutet: ohne Ziel. Das ist auch auf mehreren Ebenen zu verstehen, nämlich einerseits in der Einstellung, der Haltung, die man bei der Praxis hat, man sollte nicht eingeschränkt werden durch ein Ziel. Man sollte nicht irgendetwas erwarten. Und wenn man nichts erwartet, kann man alles erwarten. Das ist das eine, es bedeutet also kein Ziel, kein Gewinn, für einen persönlich aber es bedeutet auch, dass diese Praxis selbst kein Gegenstand ist.

Ich denke übrigens, wenn eine Praxis zu einem Gegenstand wird, dann fängt das an, was man Dogmatik oder Götzendienerei nennt. Das bedeutet aber nicht, dass diese Übung beliebig ist. Im Gegenteil, es bedeutet äußerste Genauigkeit, völlige Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Augenblick. Eben das heißt eine Haltung entwickeln in der Gegenwart. Wenn ich versuche aufrecht zu sitzen — beim Stehen ist das genauso — muss ich alle Gegebenheiten des Augenblicks berücksichtigen. Vom Moment an, wo ich irgendeine nicht berücksichtige, kann ich die Haltung nicht lange aufrechterhalten.

Das ist auch ein Grund, weshalb man von Zeit zu Zeit länger übt. Man kann zum Beispiel Anspannungen — Anspannungen sind eine Art, Dinge nicht zu berücksichtigen, über Dinge hinwegzugehen — Anspannungen also, kann man eine Zeit lang durch Willensanstrengung aufrechterhalten, eine Haltung kann man eine Zeit lang durch Willensanstrengung aufrecht erhalten, aber mit der Zeit wird es starr und dann geht es nicht mehr.

Deswegen ist es sinnvoll von Zeit zu Zeit ein bisschen länger zu üben. Also wie gesagt, das ist wie mit dem Gleichgewicht, wenn man das Gleichgewicht hält, zum Beispiel auf dem Fahrrad. Und es ist klar, soll man die ganze Situation berücksichtigen, dann geht das mit dem persönlichen Denken, dem persönlichen unterscheidenden Bewusstsein gar nicht.

Das ist die berühmte Geschichte vom Hundertfüßler der überlegt, welchen Fuß er gerade bewegen muss, um zu gehen. Das kennen wir alle, beim Autofahren, beim Schwimmen usw. Beim Zazen ist es das Gleiche, natürlich wird einem gesagt: man soll so sitzen und die Knie so und das und jenes, und die Ausatmung und die Gedanken vorbeiziehen lassen, aber das muss man alles zusammen machen und man muss es gleichzeitig vergessen. Aber das ist nichts Spezifisches für die Zazenhaltung. Das Spezifische für die Zazenhaltung ist, dass man es wirklich macht ohne etwas Besonderes erreichen zu wollen, anders als wenn man Fahrrad fährt oder schwimmt.


Bertrand Schütz ist Zen-Mönch, er lebt und arbeitet in Hamburg als Übersetzer und Dozent für Sprache und Literatur. Er ist Verantwortlicher für das Zen-Dojo Hamburg.

Dieser Text ist eine Zusammenfassung eines Vortrags über die Praxis des Zen (am 24. März 2006 in Tübingen).


www.zenroad.org

Vorheriger ArtikelWintertour von Lama Ole Nydahl
Nächster ArtikelDas Intersein-Zentrum