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Ansatzpunkte für Nāgārjunas Methodik

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Nāgārjuna sah sich im philosophischen Umfeld seiner Epoche, die eine Blütezeit der indischen Philosophie darstellte, mit einer Vielzahl unterschiedlicher buddhistischer wie nichtbuddhistischer Schulen sowie deren Standpunkten konfrontiert. Jene um das 1. Jahrhundert v. Chr. einsetzende Ära, die eine systematische Periode in der indischen Philosophie einläutete, war geprägt von einer regen Debattierkultur, in der die Wortgefechte nach den Kategorien (padārtha) eines festgelegten Reglements abgehalten wurden.

Es war auch die Zeit der schriftlichen Fixierung von Lehrinhalten in Sūtraform und weiteren ergänzenden Kommentaren. In diesem philosophischen Wettstreit wurde der Buddhismus erstmals in seiner Geschichte auf umfassende Weise einer strengen Prüfung von seiten konkurrierender nichtbuddhistischer Systeme unterzogen und musste zu diversen Themen Rede und Antwort stehen. Dazu gehörten neben epistemologischen Fragen wie zum Beispiel, welche Erkenntnismittel (pramāṇa) eine zuverlässige Wahrheitsfindung ermöglichten, auch der immer wieder auftretende Erklärungsbedarf nach dem Ablauf der Wiedergeburt und dem Wesen der Realität. Es hatten sich in Bezug auf die wichtige, weil mit dem Gesetz des Karma direkt in Verbindung stehende Frage, auf welche Weise sich Kausalität vollzieht, in den orthodoxen, den Veda als Autorität anerkennenden Systemen, zwei grundlegende Modelle entwickelt:

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Die vom philosophischen System des Sāṃkhya favorisierte Theorie des satkāryavāda (wörtlich etwa: „Lehre vom Sein der Wirkung“), die besagt, dass die Wirkung bereits potentiell in der Ursache enthalten ist (Identität von Ursache und Wirkung)

Die vom System des Vaiśeṣika verfochtene Theorie des asatkāryavāda („Lehre vom Nichtsein der Wirkung [vor und nach ihrer Manifestation]“), die den diametral entgegengesetzten Standpunkt zum Sāṃkhya einnimmt. Die Wirkung ist dieser Lehrmeinung zufolge nicht potentiell in der Ursache enthalten, sondern beide sind völlig verschieden und getrennt voneinander (Differenz von Ursache und Wirkung).

Alle anderen Kausalitätsmodelle der nichtbuddhistischen Schulen stellten lediglich Abwandlungen dieser beiden Positionen dar:

Die Auffassung der Jains drückte sich erkenntnistheoretisch im „syādvāda“ (Lehre von der Gültigkeit einer Aussage je nach einzelnem Standpunkt) und ontologisch im „anekāntavāda“ (Lehre der Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen) aus und nahm die Position einer Synthese ein. Gemäß dieser Haltung ist jede Aussage wahr aus der jeweiligen Perspektive der Person, die sie trifft. Und die Wirklichkeit besitzt nicht nur einen einzigen ausdrückbaren Aspekt, sondern kann nur durch Nennung mehrerer Aspekte verbalisiert werden. Die jainistische Philosophie setzte bezüglich der Frage nach der Wirkweise der Kausalität auf die Möglichkeit „sowohl als auch“, eine Auffassung, die auch die später theistische Ausprägung des Sāṃkhya vertrat.

Die Fatalisten (Ājīvikas) lehrten dagegen einen strengen Determinismus, der eine moralisch-ethisch begründete Kausalität ausschloss. Sie verwarfen das Gesetz des Karma zugunsten einer These, nach der das Weltgeschehen völlig willkürlich durch den Lauf des Schicksals (niyati) gesteuert wurde. Es gab demnach für den Menschen keine Möglichkeit, sich durch eigene Anstrengung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (Saṃsāra) zu befreien, da die Erlösung für sie nicht von der Qualität der Taten abhing (akriyavāda).

Die Materialisten (Lokāyatikas) lehnten alle generell akzeptierten Grundsätze philosophisch-religiösen indischen Denkens ab. Für sie gab es weder Wiedergeburt noch Karma, und das Leben endete für sie mit dem körperlichen Tod. Die Welt entstand ihrer Ansicht nach rein zufällig, ohne bestimmte Gesetzmäßigkeit oder Ordnung aus den vier Elementen Erde, Feuer, Wasser und Luft. Aufgrund dieser Haltung propagierten sie den Hedonismus und die Auflösung der starren Kastenstruktur.

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In dieses polyphone Konzert der Sichtweisen stimmten zwei der insgesamt 18 Schulen des Hīnayāna mit ein: die Schulen des Sarvāstivāda und des Sautrāntika, die sich intensiv mit der im Abhidharma systematisierten Lehre von den grundlegenden Wirklichkeitsbestandteilen, den Daseinsfaktoren (dharmas), auseinandersetzten. Die vehemente Diskussion über den Status dieser konstitutiven Elemente, die neben anderen Gründen überhaupt erst dazu geführt hatte, dass sich die Sautrantikas als eigenständige Schule vom Sarvastivada abspalteten, schloss auch einen Streit über den kausalen Zusammenhang zwischen den Daseinsfaktoren mit ein, und im Zuge dessen wandten die beiden Schulen die Modelle des satkāryavāda und des asatkāryavāda auf ihre Darstellungen an.

Die Sarvāstivādin vertraten das Modell einer Koexistenz aller zukünftiger, gegenwärtiger und vergangener Daseinsfaktoren in einem ewigen Latenzzustand, den sie jeweils aufgrund ihrer karmisch bedingten Aktivierung verlassen, um in wechselnden Kombinationen Welt und Dinge zu konstituieren. Nachdem die jeweilige Bindung, die die Daseinsfaktoren eingegangen sind, wieder auseinanderfällt, verlöschen sie nicht vollständig, sondern bleiben stets solange in ihrer Potentialität erhalten bis sie erneut aktiviert werden (daher auch der Name „Sarvāstivāda“, von skrt. „sarvam asti“ = alles existiert).

Die Sarvastivadin sprachen den Elementen der Wirklichkeit eine „Eigenexistenz“ (svabhāva) zu und werteten ihren Status dadurch zu einer „höchsten Wirklichkeit“ (paramārtha) auf. Diese Auffassung kam für die Sautrāntikas einem Verstoß gegen die zentrale buddhistische Lehre vom „Nicht-Selbst“ gleich, da die Erhöhung der Daseinsfaktoren auf eine den Dingen und Subjekten übergeordnete Realitätsstufe die Daseinsfaktoren ihrerseits wieder in die Position eines „unwandelbaren Selbst“ brachte – vergleichbar mit dem Ātman der Upaniṣaden. Sie verfochten im Gegensatz dazu eine Lehre der Augenblicklichkeit (kṣaṇikavāda), derzufolge die Daseinsfaktoren nur momenthaft aufblitzen, um im selben Moment wieder vollständig zu vergehen. Die Faktoren besitzen daher keinerlei zeiträumliche Ausdehnung und keinen linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zueinander. Vor ihrem Entstehen waren die Daseinsfaktoren gänzlich nichtexistent und in diese Nichtexistenz werden sie auch wieder nach ihrem Vergehen überführt.

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All diese vorherrschenden Kausalitätsmodelle weist Nāgārjuna schon zu Anfang des ersten Kapitels seiner „Lehrstrophen über die Wurzel der Mittleren Lehre“ gleichermaßen als widersprüchlich zurück:

Nirgends und niemals findet man Dinge, entstanden aus sich, aus anderem,

aus sich und anderem zusammen, ohne Grund (d.i. weder aus noch aus anderem).

na svato nāpi parato na dvābhyāṃ nāpy ahetutaḥ |

utpannā jātu vidyante bhāvāḥ kva cana ke cana||

(MMK 1.1)

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Die Haltung der Sarvāstivādins mit ihrer Version des satkāryavāda ging Nāgārjuna zufolge einher mit der extremen Ansicht des „Ewigkeitsglaubens“ (śāśvatavāda), da sie die Daseinsfaktoren zu etwas ewig und dauerhaft Existierendem emporhoben. Die Sautrāntikas verfielen mit ihrer Ausarbeitung des asatkāryavāda in den Augen Nāgārjunas hingegen dem anderen Extrem der „Vernichtungslehre“ (ucchedavāda), indem sie die Daseinsfaktoren vor ihrem Entstehen und nach ihrem Vergehen für gänzlich nicht-existent erklärten. Beide Ansichten waren für Nāgārjuna mit dem „Mittleren Weg“ (madhyamā pratipad) nicht vereinbar, den er unter Berufung auf Buddha mit der völligen Gleichwertigkeit von „Bedingtem Entstehen“ und „Leerheit“ definierte.

Die Daseinsfaktoren sind nicht ewig, da sie ihrerseits in Abhängigkeit von bedingenden Faktoren bestehen, sie werden jedoch auch nicht vernichtet, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit gänzlich leer von Eigenexistenz sind. Dieses Verständnis fasst Nāgārjuna in folgendem Satz zusammen:

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Das Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit (pratītyasamutpāda), dies ist es, was wir ‚Leerheit‘ nennen. Das ist [aber nur] ein abhängiger Begriff (prajñapti); gerade sie (die Leerheit) bildet den Mittleren Weg.


yaḥ pratītyasamutpādaḥ śūnyatāṃ tāṃ pracakṣmahe |

sā prajñaptir upādāya pratipat saiva madhyamā ||

(MMK 24.18)

Die Heranführung an diesen nur in der höchsten Einsicht (prajñā) lückenlos nachvollziehbaren Sachverhalt ist das zentrale Motiv, das hinter Nāgārjunas gesamter Philosophie steht. Nāgārjuna analysierte die wichtigsten buddhistischen Themenbereiche vor diesem Hintergrund.

Quelle : http://de.wikipedia.org

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