Start Editorial Die Kunst des Ergründens – von Ajahn Akincano

Die Kunst des Ergründens – von Ajahn Akincano

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Die Kunst des Ergründens

von Ajahn Akincano

Seated Buddha15th century; Sukhothai

Eine etwas abgegriffene Weisheit besagt, dass Erfahrung das ist, was wir kriegen, wenn wir nicht kriegen, was wir wollen. Diese Aussage kann einer Enttäuschung von ihrer Bitterkeit nehmen, oder, wenn ironisch gemeint, ihre Schmerzlichkeit verschärfen. Vielleicht gelingt es im Folgenden, unserer abgetragenen Weisheit, jenseits von Beschönigung und Ironie, etwas von ihrer kontemplativen Tiefe zurückzugeben. In einer zu Unrecht wenig bekannten Passage der Gruppierten Sammlung [S 45, 49-62] spricht der Buddha von mehreren Qualitäten, die „der Verwirklichung des achtfachen Pfades vorausgehen, wie die Morgenröte dem Sonnenaufgang“ Qualitäten also, die sowohl Grundlagen als auch Vorboten der Verwirklichung des achtfachen Pfades sind. Eine dieser Qualitäten ist jene der Bewährung in ‚weisem Ergründen‘ (yoniso manasikára). Weises Ergründen ist eine in den Lehrreden auch andernorts gepriesene Fähigkeit; sie dient zum einen zur Gewinnung rechter Anschauung und zum anderen als Grundlage befreiender Erkenntnis. Was also ist mit ‚weisem Ergründen‘ tatsächlich gemeint? Hinter dem Begriff verbirgt sich ein faszinierendes Beispiel für die psychologische Vielschichtigkeit in den Darlegungen des Buddha. Er bezeichnet, vereinfacht, die Fähigkeit des Geistes, eine Situation in ihrer Ganzheit zu umfassen, sie in ihrer ganzen Tiefe aufzunehmen und mit der gesamten Intelligenz des Herzens auf jeden ihrer Aspekte einzugehen.

Gelegentliche Bedeutungsverkürzungen, wie sie sich beim Übertragen dieses überaus wichtigen Begriffes in westliche Sprachen hier und da eingeschlichen haben (etwa auf Tätigkeiten bloß der linken Hemisphäre, wie „kritische Reflexion“ oder „methodisches Erwägen“), sollen uns nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich bei weisem Ergründen nicht nur um eine umsichtige Denkmethode handelt, sondern um eine aus der Tiefe wirkende Grundhaltung des Geistes, in welcher der Buddha unmissverständlich einen Vorläufer intuitiver Weisheit (paññá) und damit der Befreiung des Herzens sieht.

Der Ausdruck „yoni“ in yoniso bedeutet wörtlich ‚Schoß‘ oder ‚Gebärmutter‘ und trägt von daher im übertragenen Sinne die Bedeutung ‚Ursprung‘ oder ‚Herkunft‘. Manasikára ist wörtlich das Anwenden oder Aufmerken des Geistes, d.h. die Funktion des Geistes, sich etwas vergegenwärtigen zu können. Yoniso manasikára kann als die Intelligenz des Herzens verstanden werden und bedeutet, sich einen Sachverhalt von der tiefsten Wurzel bis in alle Verästelungen hinein zu veranschaulichen, sich den Zusammenhang von Ursprung und Wirkung zu vergegenwärtigen und die eigene Intelligenz des Geistes auf die so erkannten Zusammenhänge anzuwenden.

Etwas mit Weisheit ergründen heißt, seinen Grund ausloten. Eine interessante Erläuterung zur Schulung weisen Ergründens spricht von ‚Aufmerksamkeit in der richtigen Weise / auf dem richtigen Weg‘ und von der Ausbildung ‚zweckdienlicher Mittel‘ (upáya). Als Beispiel eines solchen zweckdienlichen Mittels soll hier die ebenso simple wie effektive Übung der Selbstbefragung dienen. Weises Ergründen: den eigenen Grund mit Fragen ausloten lernen. Wahre Fragen stellen – im Unterschied zu bloß rhetorischen – das heißt, sich bewusst aus dem Schatten der eigenen Gewissheiten herauswagen und sich selbst fragend zu begegnen. Je unmittelbarer die Fragen, um so klarer die Resonanz. Oft hilft es auch, sich im Hinblick auf Themen der Lehre zu orientieren; im folgenden Beispiel sind es die Vier Edlen Wahrheiten:

– Ich bin zu höchstem Glück fähig was genau hält mich jetzt gerade davon ab? (dukkha)
– Was immer dies sein mag: worauf beruht dieser Zustand? Welche Erwartungen, Werthaltungen, Ansprüche und Sehnsüchte liegen ihm zugrunde? (samudaya)
– Kann ich diese ändern? Will ich sie ändern ? Kann ich sie loslassen? Kann ich aufgeben, was mich leiden macht? (nirodha)
– Wie soll ich leben? Wie will ich nicht leben? Was hilft mir angesichts meiner Erkenntnisse und Herausforderungen wirklich? Welche innere Haltung, welche äußere Lebensweise verschafft mir Selbstrespekt und bestärkt in mir und andern Menschen, was ich als gut erkenne? Wodurch erfahre ich Fülle und Glück? (magga)

Wichtig bei dieser Übung ist nun nicht nur die unmittelbare Frage selbst, sondern auch das wahrhaftige Hinhorchen, nachdem wir diese gestellt haben. Nicht alles, was wir so zu hören kriegen, wird schmeichelhaft sein. Es ist immer wieder verblüffend, wieviel Klarheit zutage tritt, wenn wir uns selbst mit einigen aufrichtigen Fragen und einem horchenden Herzen begegnen.

Ein weiterer Aspekt der Kunst des weisen Ergründens soll hier Erwähnung finden. Gewohnheitsmäßig gewähren wir unsere Aufmerksamkeit vornehmlich jenen Dingen, an denen wir Gefallen finden und zu denen wir uns hingezogen fühlen. Was uns nicht gefällt, entgeht uns entweder ganz, wird durch zielstrebiges Umlenken unserer Aufmerksamkeit auf Angenehmes übertönt, oder aber schnell verdrängt. Aus der Verkettung von Gefallen und Interesse, Missfallen und Desinteresse ergibt sich, dass wir praktisch nur da unsere Aufmerksamkeit gewähren, wo uns etwas Angenehmes anspricht. Wir können jedoch nur wirklich verstehen, was uns interessiert: unsere Lernfähigkeit ist ein Kind der Neugierde und der Aufmerksamkeit. Was also passiert mit den meisten unserer unangenehmen und scheinbar belanglosen Erfahrungen? Sie fallen als Einsichtspotential unter den Tisch, weil wir nie genug Aufmerksamkeit auf sie verwenden, um daraus etwas zu lernen. Hier nun setzt yoniso manasikára ein. Im Gegensatz zu unserer gewohnheitsmäßigen, an Angenehmes gebundenen Aufmerksamkeit, setzt sich geschultes weises Ergründen mit allen unseren Erfahrungen auseinander unbesehen, ob wir an ihnen Gefallen finden oder nicht. Es umfasst in großer Sorgfalt das ganze Ereignis einer Erfahrung mit all ihren gefühlsmäßigen und gedanklichen Schattierungen, schließt auch den Aspekt unserer Zu- und Abneigung mit ein und gewährt genau jene Aufmerksamkeit, aus der schließlich Einsicht erwächst.

Spirituelle Übung ist bemüht, das Erlebnis der religiösen Dimension unseres Daseins zu vertiefen – dass wir diese als erlebte Wirklichkeit spüren: spüren wie den Grund unter unseren Füßen und den Wind im Gesicht.

Die Zeit und unsere Kräfte sind bemessen. Es ist wichtig, dass wir nicht erst auf die „richtigen“ Erfahrungen warten, bis wir zu lernen bereit sind. Die Tugend des weisen Ergründens ist die große Verwandlerin unserer kleinen Unliebsamkeiten, unserer schmerzlichen Misserfolge, unseres täglichen Scheiterns: ohne zu versüßen, ohne zu vertrösten wandelt sie uns langsam und von Grund auf zu einsichtigerem Leben.

Source : www.dhamma-dana.de




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