Ist der Buddhismus nun für das Eindringen der modernen westlichen Praxis einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur mitverantwortlich, oder stellen seine traditionellen Prinzipien nicht vielmehr eine Gegenkraft dar? Die Daseinsanalyse, die die grundsätzliche Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit oder gar Nichtigkeit des Daseins betont, war kein geeigneter Nährboden für einen Unterwerfungsfeldzug gegen die Natur zwecks Aufbau einer angeblich besseren Welt, wie er im Westen stattfand und stattfindet. Besagte Daseinsanalyse motiviert aber auch keine Aktivitäten zur Verhinderung der gegenwärtigen Naturzerstörung, sondern liefert eher spirituelle Voraussetzungen dafür, Verluste gleichmütig hinzunehmen. Die Natur ist, auch angesichts ihrer dunklen Seiten, zumindest im indischen Buddhismus kein Wert an sich.
Die negative Bewertung natürlicher Daseinsformen schließt aber nicht aus, dass im Buddhismus alle Lebewesen Gegenstand der Ethik und letztlich auch Anwärter für das Heil sind. Gerade weil die Lebewesen in der Natur so viel leiden, brauchen sie Schonung und Mitgefühl und letztendlich Erlösung. Nicht als bestimmte Arten, sondern als empfindende und insofern dem Menschen grundsätzlich gleiche Einzelwesen. Diese fundamentale Gleichheit wird im Mahayana mit Hilfe der Lehre von der Allgegenwart der wahren Wirklichkeit bzw. der Buddhaschaft auch metaphysisch untermauert. Es dürfte vor allem diese alle Lebewesen einbeziehende Ethik gewesen sein, die, zumal in Verbindung mit dem Gebot des Nichtverletzens, im buddhistischen Kulturkreis einer rein anthropozentrischen Ausbeutung und Misshandlung der Natur entgegengestanden hat und auch in Zukunft wieder entgegenstehen könnte.
Problematisch erscheint allerdings die im Buddhismus verbreitete Einschränkung, dass nur Tiere Lebewesen seien, nicht aber Pflanzen, auch nicht in analoger Weise. Immerhin bleiben auch so Pflanzen, Erde, Wasser und Luft insofern in das Schädigungsverbot einbezogen, als sie Lebensraum für Tiere sind. Auch die Praxis des Buddhismus, Lokal- und Naturgeister einfach einzugliedern – im Gegensatz zu ihrer Dämonisierung im Christentum -, hat, wie am deutlichsten das Beispiel Tibet zeigt, sicherlich dazu beigetragen, dass eine Praxis rücksichtsloser Naturausbeutung nicht aufkam.
Ein Nachteil der Allbeseeltheitslehre ist, dass totale Nichtschädigung praktisch undurchführbar ist. Dies gilt aber im Lichte der neuzeitlichen Mikrobiologie wegen der Einzeller auch für ein auf Tiere (und deren Lebensräume) eingeschränktes Nichtverletzen. Überdies gibt es Konfliktsituationen, in denen die Schonung des einen die Schädigung des anderen impliziert. Das Gebot des Nichtverletzens kann daher als wenigstens annähernd erfüllbares Verhaltensprinzip nur wirksam werden, wenn man, wie es vor allem im Mahayana geschehen ist, in ihm nicht ein rigides Tabu sieht, sondern vielmehr eine ethische Leitlinie und es dahingehend auslegt, dass eine Schädigung von Tieren, Pflanzen und Lebensräumen so gering wie irgend möglich zu halten ist.
Als ethische Leitlinie muss das Schädigungsverbot aber auch alle Arten von indirekter Schädigung einschließen, etwa indirekte Schädigung durch Baumaßnahmen oder Chemikalien, auch durch Fernwirkungen (etwa Klimawandel und Luftverschmutzung) und auch durch die Übervermehrung der Menschheit, die ja notwendig auf Kosten anderer Lebewesen geht.
Es lässt sich nicht leugnen, dass eine solche Relativierung des Schädigungsverbotes – wie gewisse Entwicklungen im Mahayana zeigen – auch Gefahren birgt und ein großes Maß an Weitblick und Durchblick, aber auch Uneigennützigkeit erfordert. Entscheidend ist dabei, dass der Buddhismus an seiner traditionellen Lehre festhält, dass es um das Wohlergehen aller Lebewesen – und nicht bloß der Menschen – geht.
Man kann nur hoffen, dass die Prinzipien der traditionellen buddhistischen Ethik auch im Westen an Boden gewinnen. Bislang hat es allerdings eher noch den Anschein, dass sich der robust-brutale Anthropozentrismus durchsetzt. Dafür gibt es aktuell viele Beispiele; angeführt sei hier die Weigerung George W. Bushs, aus Rücksicht auf die Ölindustrie wirksame Maßnahmen zum Schutz des Klimas zu treffen. So könnte es geschehen, dass in absehbarer Zeit der buddhistische Grundsatz der Vergänglichkeit allen Daseins etwas früher und abrupter als eigentlich notwendig seine Gültigkeit an weiten Teilen der Natur, aber wohl auch an der Spezies Mensch selbst erweist.
Quelle : www.tibet.de