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Nagarjuna : Philosophie – Die Lehre von der Leerheit (śūnyatāvāda)

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Nāgārjunas Anliegen war eine Rückbesinnung auf das „Mittlere“ der Lehre Buddhas, das angesichts der Auseinandersetzung zwischen Sarvāstivādin und Sautrāntikas drohte, der bloßen Spekulation über metaphysische Gegebenheiten zum Opfer zu fallen. Er war somit weder Begründer einer neuen Schule, noch war er Gründer des Mahayana selbst. Nāgārjuna analysierte die wichtigsten buddhistischen Kernthemen unter dem Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit von Bedingtem Entstehen und Leerheit, die er zu Beginn seiner „Lehrstrophen über die grundlegenden Lehren des Mittleren Weges“ mit den „acht Verneinungen“ unterstreicht:

Nichtvergehen, Nichtentstehen, Nichtabbrechen, Nichtandauern, Nichteinheit, Nichtvielheit, Nicht-zur-Erscheinung-Kommen, Nicht-aus-ihr-Verschwinden.

anirodham anutpādam anucchedam aśāśvataṃ |

anekārtham anānārtham anāgamam anirgamaṃ ||

Seines Erachtens hatten die Sarvāstivādin und die Sautrāntikas, dieses „Mittlere“ nicht genügend verinnerlicht, was dazu führte, dass sie in Extreme verfielen: die Sarvāstivādin in die „Es ist immer“-Position der ewigen Dauer und die Sautrāntikas in die „Es ist und wird nicht mehr sein“-Position der Vernichtung. Beide Schulen waren in dieser Hinsicht vom buddhistischen Pfad abgewichen, dessen Quintessenz Buddha in einer seiner Lehrreden mit folgendem kurzen Satz erläutert: „Nur eines lehre ich: Das Leiden und die Aufhebung des Leidens“ (Majjhima-Nikaya, MN 22).

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Für Nāgārjuna ist, wie es sich auch schon als Trend in der Prajñāpāramitā-Literatur abzeichnete, insbesondere die Unwissenheit (avidyā) eine der Hauptquellen des Leidens, und sie gilt es vor allem anderen abzubauen, um sie im Gegenzug durch Erkenntnis (prajñā) und Wissen (jñāna) zu ersetzen. Dies ist ihm zufolge auch auf dem logisch-argumentativen Wege über die Theorie möglich, der er durchaus einen praktischen Nutzen zuspricht. Er verfährt in seiner Argumentation dekonstruktiv, um beim Praktizierenden Schritt für Schritt alle Tendenzen des Ergreifens aufzulösen, und dadurch das „Mittlere“ zu enthüllen, das sich in der so gewonnenen Erkenntnis zeigt.

Um die Leerheit anhand schlüssiger Argumente zu begründen, unterzieht Nāgārjuna die Vergänglichkeit der Phänomene einer strengen Analyse. Nur weil die Phänomene leer sind, so argumentiert Nāgārjuna, können sie entstehen und vergehen. Und nur weil sie leer sind, ist die Überwindung des Leidens durch die Vier Edlen Wahrheiten sowie das Beschreiten des Edlen Achtfachten Pfades zur Erlösung überhaupt erst möglich. Wären die Phänomene nicht-leer, gäbe es keinerlei Entwicklung in der Welt, alles wäre vollkommen statisch, unveränderlich, gewissermaßen „eingefroren in der Unendlichkeit“. Die Dinge wären unverursacht und, da sie für ihr Dasein keinerlei Stütze benötigten, in Ewigkeit erstarrt. Doch dies lässt sich mit der Beobachtung des ständigen Wandels in der Welt nicht vereinbaren. Nirgendwo finden sich unvergängliche Dinge. Und daher, schlussfolgert Nāgārjuna, finden sich nirgendwo Dinge, die nicht leer sind.

Beispielsweise ist ein Baum abhängig von den verschiedensten bedingenden Faktoren: Wurzeln, Stamm, Ästen, Zweigen, Blättern, Nährstoffen im Boden, Wind, Regen, Sonneneinstrahlung usw. Der Baum ist aus diesem Betrachtungswinkel für sich genommen gar nicht „da“, sondern erst durch das Ineinandergreifen der diversen Faktoren, die ihn „ins Dasein erheben“ – dazu gehört auch z.B. die Wahrnehmung und die sprachliche Zuordnung. Das gesamte Universum wirkt mit an diesem einen Baum, da alle Bedingungen ihrerseits wieder von anderen Faktoren bedingt werden. Fiele ein Faktor weg, fielen alle anderen ebenso weg, sie sind untrennbar miteinander verwoben. Wäre der Baum ein durchweg isoliertes und eigenständiges Phänomen, das unabhängig von Bedingungen existierte, könnte er nicht wachsen und gedeihen, da er für sein Vorhandensein nichts anderes bräuchte als sich selbst. Er wäre Entstehen und Vergehen nicht unterworfen, immer gleich, ungebunden, todlos. Doch dies widerspricht der Tatsache, dass er sich unablässig verändert, vom Samenkorn bis hin zu dem knorrigen Gewächs mit dichtem Blattwuchs, das auch irgendwann wieder dem Verfall anheimfällt und stirbt.

Die Dinge sind also ohne Selbst (nairātmya), wesenlos (asvabhāva) und leer (śūnya), da sie infolge ihrer Abhängigkeit von bedingenden Faktoren über keinerlei „Eigenexistenz“ (svabhāva) verfügen.

„Eigenexistenz“ (auch „Eigennatur“ oder „Eigensein“ genannt) beschreibt als Fachausdruck der indischen Philosophie die Eigenschaft von etwas, das aus sich selbst heraus existiert, etwas Stützenlosem, das für sein Vorhandensein keine Bedingungen braucht. Der in den Upaniṣaden behandelte Atman wird dort zum Beispiel mit dem Prädikat „eigenexistent“ versehen. Er hat in dieser Funktion den Status einer dem Relativen übergeordneten „letzten Wirklichkeit“ inne, ist im Gegensatz zur sich ständig wandelnden, bedingten Welt in sich selbst begründet, ewig, unveränderlich, rein und unentstanden. Dies sind die Attribute, die der „Eigenexistenz“ üblicherweise zugesprochen werden. Und diese Eigenexistenz ist es, die Nāgārjuna in Bezug auf die Phänomene prinzipiell ausschließt.

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Die Welt ist für Nāgārjuna eben wegen dieses Fehlens von Eigenexistenz keine Welt des Seins, sondern des ständigen Werdens. Die Dinge sind nicht, sondern geschehen, gleich einer Melodie, die auch nicht ist, sondern in der Aufeinanderfolge der Töne stattfindet. Auch die Daseinsfaktoren fallen in diese Kategorie, denn als solche existieren sie nicht unabhängig, sie sind unmittelbar in das Beziehungsgeflecht des „pratītyasamutpāda“ eingebunden. Da aber nun Abhängigkeit und Leerheit das Gleiche bedeuten, entstehen und vergehen die Dinge laut Nāgārjuna nicht wirklich.


Für dich mag gelten, dass Entstehen und Vergehen [doch] gesehen werden. Man sieht Entstehen und Vergehen [jedoch] nur aus Verblendung.

dṛśyate saṃbhavaś caiva vibhavaś caiva te bhavet |

dṛśyate saṃbhavaś caiva mohād vibhava eva ca ||

(MMK 21.11)

Die beiden unheilsamen Sichtweisen des „Ewigkeitsglaubens“ und der „Vernichtungslehre“ versehen die Dinge mit einer Substanz, die im ersteren Falle als etwas Unzerstörbares angesehen wird und in letzterem Falle zusammen mit dem Phänomen ins Dasein tritt und dann wieder verloren geht, wenn das Phänomen zerfällt. Doch da alles im Werden Begriffene im Buddhismus keinen bleibenden Kern aufweist, dauert es weder an (Ewigkeit), noch hört es auf zu sein (Vernichtung), ist weder Eines (Monismus), noch Vieles (Pluralismus). Nāgārjuna vergleicht das substanziell – und damit als absolut – aufgefasste Entstehen und Vergehen daher mit Luftspiegelungen und Schimären, mit Zaubertrug und Traumgebilden. Was von Bedingungen abhängt, ist leer. Was leer ist, verfügt über keine eigenständige, unabhängige Realität. So wie Wellen an der Oberfläche des Meeres auftauchen, ohne dass dabei Wasser hinzugewonnen wird, und so wie die Wellen wieder in den Ozean zurückkehren, ohne dass dabei Wasser verloren geht, entstehen und vergehen die Phänomene:

Wie Zauber, wie Traum, wie eine Fata Morgana werden Entstehen, Bestehen und Vergehen aufgefasst.

yathā māyā yathā svapno gandharvanagaraṃ yathā |

tathotpādas tathā sthānaṃ tathā bhaṅga udāhṛtam ||

(MMK 7.34)

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Die Dinge treten nicht absolut wirklich ins Dasein, da auch ihr Entstehen von Bedingungen abhängt – und diese Abhängigkeit macht das Auffinden einer ersten Ursache, einer greifbaren Wurzel, unmöglich; sie verliert sich im Konditionalnexus, dem gewaltigen Netz der Bedingtheit. Die Phänomene existieren nicht ewig (ananta), und sie kommen auch nicht aus dem Nichts (vibhāva), um nach ihrer Existenz wieder in dasselbe Nichts zu verschwinden. Sie sind aufgrund ihrer Leerheit, die diese beiden Extreme ausschließt, weder existent noch nicht-existent.

Ausgehend von dieser Feststellung, treibt Nāgārjuna seine Argumentation noch einen Schritt weiter nach vorne und beschreibt in einem Vers, der zu den meistzitierten Sätzen der Mūlamadkyamakakārikā zählt, die Ununterscheidbarkeit von Samsara und Nirvana auf dem Gipfel der Erkenntnis (prajñā):

Es gibt nichts, was den Samsara vom Nirvana, und das Nirvana vom Samsara unterscheidet. Die Grenze des Nirvana ist zugleich die Grenze des Samsara. Zwischen diesen beiden wird auch nicht der feinste Unterschied gefunden.

na saṃsārasya nirvāṇāt kiṃcid asti viśeṣaṇam |

na nirvāṇasya saṃsārāt kiṃcid asti viśeṣaṇam ||

nirvāṇasya ca yā koṭiḥ koṭiḥ saṃsaraṇasya ca |

na tayor antaraṃ kiṃcit susūkṣmam api vidyate ||

(MMK 25.19-20)

Vom Standpunkt der Erlösung gibt es keine Differenzierung mehr zwischen den bedingten Erscheinungen der Daseinswelt und dem unbedingten Nirvana. „Bedingtes“ und „Unbedingtes“ sind dualistische und aufeinander bezogene Begriffe. Nur derjenige, der nicht zur Weisheitserfahrung der universellen Leerheit gelangt ist, haftet an ihnen, und dies versperrt ihm den Weg zur Einsicht – er errichtet eine Grenze zwischen Samsara und Nirvana, die es nicht gibt. Da die Leerheit gleich Erlösung ist, befinden sich alle Wesen bereits im Zustand essenzieller Erlöstheit. Es gilt also lediglich, sich dieser Erlöstheit, die frei ist von allen Begrenzungen, Unterscheidungen und Extremen, bewusst zu werden, und sie zu erkennen. Doch dieses Erkennen, so mahnt Nāgārjuna, ist infolge der Anatta-Lehre nicht als ein persönlicher Vorgang zu verstehen. Er macht auf den Widerspruch aufmerksam, der in der Vorstellung zu Tage tritt, das Nirvana „haben“, „erringen“, „erlangen“ oder „verwirklichen“ zu wollen:
‚Erlöschen werde ich ohne Ergreifen; mir wird Nirvana sein!’ – Diejenigen, die in solchem Wahn gefangen sind, die sind vom Ergreifen besonders gefangen.


nirvāsyāmy anupādāno nirvāṇaṃ me bhaviṣyati |

iti yeṣāṃ grahas teṣām upādānamahāgrahaḥ ||

(MMK 16.9)

Der Begriff der „Leerheit“ als zentrales Element in Nāgārjunas Lehre hat somit vornehmlich soteriologische Funktion. Er dient dazu, die alltägliche Wirklichkeitsauffassung, die von Konventionen wie Sprache und Denken geprägt ist, aus der Perspektive der Erlöstheit zu relativieren, um mit bestimmten Grundannahmen aufzuräumen, die einer tieferen Einsicht und damit der Leerheitserfahrung im Wege stehen. Festgefahrene Denkmuster und Vorstellungen, die in einander ausschließende Extreme münden – u.a. die des „Eigenseins“ (svabhāva) und des „Fremdseins“ (parabhāva), der „Identität“ und der „Differenz“ – sollen aufgebrochen werden, um die ergreifende und anhaftende Tendenz des Denkens, die Nāgārjuna mit dem Ausdruck der „begrifflichen Entfaltung“ (prapañca) wiedergibt, zu beruhigen und die damit einhergehenden Fixierungen aufzulösen:

Erlösung kommt durch die Vernichtung von Karma und Anhaftungen. Karma und Anhaftung kommen aus unterscheidenden Vorstellungen (vikalpa), sie kommen aus der begrifflichen Entfaltung (prapañca). Die Entfaltung aber wird in der Leerheit vernichtet.

karmakleśakṣayān mokṣaḥ karmakleśā vikalpataḥ |

te prapañcāt prapañcas tu śūnyatāyāṃ nirudhyate ||

(MMK 18.5)

Nāgārjuna warnt jedoch mehrfach davor, die Leerheit nicht mit einer hinter der Welt liegenden „Realität“ oder einer Ansicht zu verwechseln, die diese Realität repräsentiert. Man sollte sich davor hüten, sie ihrerseits zum Träger einer Substanz oder gar zum „wahren Wesen“ der Phänomene, einem Absoluten, zu machen. Die Leerheit ist für Nāgārjuna vorrangig im Sinne eines Hilfsmittels zu verstehen, das als solches nicht vergegenständlicht werden darf:
Die Leerheit wurde von den „Siegreichen“, den Buddhas, als Zurückweisung jeglicher Ansicht gelehrt. Diejenigen aber, für welche die Leerheit eine Ansicht ist, die wurden für unheilbar erklärt.

śūnyatā sarvadṛṣṭīnāṃ proktā niḥsaraṇaṃ jinaiḥ |

yeṣāṃ tu śūnyatādṛṣṭis tān asādhyān babhāṣire ||

(MMK 13.8 )

Es ist daher laut Nāgārjuna äußerst wichtig, mit dem Begriff der Leerheit vorsichtig umzugehen. Er ist als heilsames Konzept gedacht, um von extremen Ansichten zu befreien, kann sich jedoch, wenn er als Ansicht missverstanden wird, auch gegenteilig auswirken und Schaden anrichten.
Die falsch aufgefaßte Leerheit richtet den, der von schwacher Einsicht ist, zugrunde – wie eine schlecht ergriffene Schlange oder falsch angewandte Magie.

vināśayati durdṛṣtā śūnyatā mandamedhasam |

sarpo yathā durgṛhīto vidyā vā duṣprasādhitā ||

(MMK 24.11)

Es gilt aus diesem Grunde auch zu erkennen, dass die Leerheit als abhängige Bezeichnung selbst leer ist – eine Aussage, die Nāgārjuna aus den eigenen Reihen Vorwürfe des Nihilismus (nastitva) und der „Selbstwiderlegung“ einbrachte, da sie als Theorie missverstanden wurde. Die Leerheit war von Nāgārjuna nie als Theorie beabsichtigt, die eine andere Theorie ersetzen sollte. Es ging ihm vielmehr darum, letztlich alle Theorien hinter sich zu lassen, auch die der Leerheit. Wenn die Leerheit ihren Zweck als Hilfsmittel erfüllt hat und den Blick für eine tiefere Einsicht öffnen konnte, sollte sie aufgegeben werden, so wie man ein Floß hinter sich lässt, das einen ans rettende Ufer brachte und von da an nicht mehr benötigt wird. Sogar nur von ihr zu sprechen kann sich unheilsam auswirken, wenn das Gesprochene reifiziert wird, weswegen Nāgārjuna betont:

Man soll weder sagen ‚leer‘, noch ’nicht-leer‘, auch nicht ‚beides zugleich‘ und auch nicht ‚keines von beiden‘. Zum Zwecke der Verständigung aber mag man so sprechen.

śūnyam iti na vaktavyam aśūnyam iti vā bhavet |

ubhayaṃ nobhayaṃ ceti prajñaptyarthaṃ tu kathyate ||

(MMK 22.11)

An diesem Beispiel zeigt sich Nāgārjunas Argumentationstechnik mittels des „Urteilsvierkants“ (catuṣkoṭi), der im Folgenden näher erläutert wird.

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Der Urteilsvierkant (catuṣkoṭi)

Das logische Stilmittel des „Urteilsvierkants“ (catuṣkoṭi), auch „buddhistisches Tetralemma“ genannt, das Nāgārjuna in seiner Argumentation als didaktisches Instrument einsetzt, ist eine vermutlich auf den im Dīghanikāya erwähnten Skeptiker Sañjaya Belaṭṭhiputta zurückgehende Denkfigur, die sich aus vier Gliedern zusammensetzt, welche vier möglichen logischen Alternativen entsprechen. Sie wird der Überlieferung nach bereits von Buddha auf Fragen angewandt, die seinem Verständnis nach von den falschen Prämissen ausgehen und daher von vorne herein dem Kontext nach nicht richtig gestellt sind. Diese Vorgehensweise Buddhas ist an mehreren Stellen des Pali-Kanon tradiert. Ein Textbeispiel hierzu findet sich in einem Kapitel aus dem „Saṃyuttanikāya“ („Gruppierte Sammlung“), wo Kassapa, ein Wanderasket und späterer Schüler Buddhas, von Buddha über die Entstehung des Leidens aufgeklärt wird:

Kassapa: Ist etwa das Leiden, Herr Gotama, selbst verursacht?

Buddha: Nicht so sollst du sprechen, Kassapa.

Kassapa: Oder aber ist das Leiden von einem anderen verursacht?

Buddha: Nicht so sollst du sprechen, Kassapa.

Kassapa: Ist etwa das Leiden sowohl selbst verursacht als auch von einem anderen verursacht?

Buddha: Nicht so sollst du sprechen, Kassapa.

Kassapa: Oder aber ist das Leiden nicht selbst bewirkt und auch nicht von einem anderen bewirkt, sondern durch Zufall entstanden?

Buddha: Nicht so sollst du sprechen, Kassapa.

Kassapa: Gibt es also, Herr Gotama, überhaupt kein Leiden?

Buddha: Es gibt wohl ein Leiden, Kassapa.

Kassapa: Kennt also Herr Gotama das Leiden nicht und sieht es nicht?

Buddha: Ich kenne das Leiden wohl, ich sehe das Leiden wohl, Kassapa.

Kassapa: So möge mir der Erhabene das Leiden darlegen, möge es mir verkünden.

Daraufhin antwortete der Buddha zusammenfassend: „Behauptet man nämlich, der Nämliche ist es, der die Handlung ausführt und der die Folgen empfindet, so gibt es einen, der von Anbeginn da ist – sagt man von dem aus, das Leiden ist selbst verursacht, so kommt man damit auf ein ewig Dauerndes hinaus. – Behauptet man ein anderer ist es, der die Handlung ausführt und der die Folgen empfindet, so gibt es einen, der von Empfindung betroffen ist. Sagt man von dem aus, das Leiden ist von einem anderen verursacht, so kommt man auf eine völlige Vernichtung hinaus. Diese beiden Enden vermeidend, Kassapa, verkündet in der Mitte der Tathāgata die wahre Lehre: Durch Unwissenheit bedingt sind die Gestaltungen, durch die Gestaltungen bedingt ist das Bewusstsein…“ (Saṃyutta Nikāya SN 12.17)

In diesem Beispiel argumentiert Buddha mit der Negation aller vier Glieder des catuṣkoṭi. Er versucht damit, auf die bereits tendenziell in den Fragestellungen verborgenen extremen Ansichten des Ewigkeitsglaubens und der Vernichtungslehre hinzuweisen, die nach buddhistischem Denken zu vermeiden sind.

Der „Urteilsvierkant“ als theoretisches Modell bezieht in seiner Grundstruktur sowohl den Satz vom Widerspruch als auch den Satz vom ausgeschlossenen Dritten mit ein:

Etwas ist (so)

Etwas ist nicht (so)

Etwas ist sowohl (so) als auch nicht (so)

Etwas ist weder (so) noch nicht (so)

Die buddhistische Logik geht gemäß der zentralen Lehre vom Nicht-Selbst davon aus, dass A nicht mit sich selbst identisch ist, das heißt: A ist nicht A (das isoliert geglaubte Selbst ist in Wirklichkeit ein fehlerhafter Eindruck, der dadurch zustande kommt, dass der Prozess ständig neu zusammentretender und wieder auseinanderfallener Gruppierungen von Daseinsfaktoren mit einem beständigen Ich verwechselt, und diese Verwechslung durch Anhaften verstärkt und aufrechterhalten wird). Dies bedeutet, die Grundprämisse der formalen Logik – Selbstidentität (A = A) – wird von vorneherein verneint. Doch im nächsten Schritt wird ebenso die Differenz negiert: A ist also genauso wenig Nicht-A (es ist auch kein Selbst in- und außerhalb der Daseinsfaktoren zu finden).

Die beiden darauf folgenden Schritte sind schließlich, da sie lediglich Kombinationen aus den ersten beiden Schritten darstellen, als genauso falsch zu verwerfen.

Es gilt gemäß dieser Vorgehensweise mithilfe des catuṣkoṭi nicht, etwas als unumstößliche Wahrheit zu beweisen, das heißt eine Behauptung zu falsifizieren oder eine falsche durch die richtige Wahrheit zu ersetzen, sondern vielmehr darum, auf die Schwachstellen in bestimmten Argumentationsformen und Gedankengängen hinzuweisen, die einer Erkenntnis entgegenwirken. Das einzig gültige Kriterium, nach der eine Aussage demzufolge letztlich bewertet werden kann, liegt darin, ob das Gesagte heilsam und für eine tiefergehende Einsicht förderlich ist oder nicht. Aussageweisen, auch wenn sie der relativen Ebene angehören, sind notwendig, um damit Lehrinhalte zu vermitteln und zu transportieren, müssen sich jedoch als „heilsam erprobt“ bewähren, und beziehen ihren Wahrheitsgehalt demnach aus der praktischen Anwendbarkeit.

Das tatsächliche, vollständige Verstehen vollzieht sich dann in der nonverbalen Einsicht, dem, was im Zen auch als „nicht-denkendes Denken“ (jap. hishiryo) bekannt ist. Somit besitzt die Anwendung des „Urteilsvierkants“ zwei Aspekte: einen dekonstruktiven, d.h. die Funktion, die „Sackgassen“ des begrenzenden, einengenden und unheilsamen Denkens aufzuzeigen, und zugleich einen konstruktiven, nämlich die Funktion, Unwissenheit (avidyā) in Weisheit (prajñā) zu überführen, also über das begrenzende Denken hinauszudeuten und von ihm wegzuleiten. Elemente aus dem catuṣkoṭi finden sich bis heute in einigen Mondos und Kōan der Zen-Tradition wieder.

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Die Lehre von den „Zwei Wahrheiten“ (satyadvaya)

Bei der Verkündigung des Dharma haben sich die Buddhas auf die zwei Wahrheiten gestützt: Die eine ist die weltliche, ‚verhüllte Wahrheit‘ (saṃvṛtisatya), die andere ist die ‚Wahrheit im höchsten Sinne’ (paramārthasatya). Diejenigen, die den Unterschied der beiden Wahrheiten nicht erkennen, die erkennen auch nicht die tiefe Wahrheit (tattva) in der Lehre Buddhas.

dve satye samupāśritya buddhānāṃ dharmadeśanā |

lokasaṃvṛtisatyaṃ ca satyaṃ ca paramārthataḥ ||

ye ’nayor na vijānanti vibhāgaṃ satyayor dvayoḥ |

te tattvaṃ na vijānanti gambhīraṃ buddhaśāsane ||

(MMK 24.8 – 24.9)

Ohne sich nicht auf die Anwendung [der Worte] (vyavahara) zu stützen, kann die Wahrheit im höchsten Sinne nicht gezeigt werden; und ohne zur Wahrheit im höchsten Sinne vorgestoßen zu sein, wird Nirvana nicht erlangt.


vyavahāram anāśritya paramārtho na deśyate |

paramārtham anāgamya nirvāṇaṃ nādhigamyate ||

(MMK 24.10)

Die in obigem Zitat von Nagarjuna angesprochene Methodik des Unterscheidens zwischen einer Wahrheit im höchsten Sinn und einer verhüllten, auf Konvention beruhender Wahrheit, die im späteren Madhyamaka konsequent fortgeführt wurde, ist in dieser Form bis heute durch alle buddhistischen Schulen hinweg erhalten geblieben. Die Auffassung, dass keine Aussage absolute Gültigkeit besitzt, sondern als relative und bedingte Aussage auf ihre Heilsamkeit hin zu überprüfen ist, hat seit Nagarjunas Formulierung der „Zwei Wahrheiten“ ihren festen Platz in allen buddhistischen Richtungen.

Bereits im „Korb der Abhandlungen“ findet sich ein erster frühbuddhistischer Ansatz zum Modell der „Zwei Wahrheiten“, indem zwischen den Wirklichkeitsebenen „samutti sacca“ und „paramattha sacca“ differenziert wird. In dieser frühen Form beziehen sich die „Zwei Wahrheiten“ auf den Realitätsstatus der Daseinsfaktoren (dharmas) im Kontrast zu den weltlichen Gegebenheiten, die von ihrem bedingten Zusammenspiel abhängen. Den Daseinsfaktoren als nicht weiter reduzierbaren Konstituenten der empirischen Realität kommt hier höchste Wirklichkeit zu, sie werden daher auch „paramattha dhammas“ genannt. Was die Daseinsfaktoren konstituieren – die alltägliche Vorstellung von „ich“, „mein“, von konkreten, substanzhaften, voneinander unabhängigen Dingen und Personen – wird hingegen der Ebene der verhüllten Wirklichkeit zugeordnet.

Nagarjuna griff dieses Modell auf, veränderte dabei jedoch, nun unter Verwendung der Sanskrit-Begriffe „samvritti satya“ und „paramartha satya“, die Einteilung der Wirklichkeitsgrade grundlegend. Die zuvor noch im abhidharmischen Sinne als „höchste Wirklichkeit“ beschriebenen Daseinsfaktoren verlegte er – wie alles verbal Ausdrückbare – auf die Ebene der „samvritti satya“, der verhüllten Wahrheit. Die höchste Wahrheit kann nicht gesagt werden, man kann nur auf sie hindeuten mittels konventioneller Wahrheit – um sie daraufhin in einer tiefer gehenden, intuitiven Einsicht unmittelbar zu erfahren. Diese Grundhaltung wird z.B. in dem Zen-Spruch „Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond“ illustriert.




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