Mensch und Tier oder Menschen und Tiere
Wenn wir in den folgenden Überlegungen von »Mensch« und »Tier« sprechen, so ist das eine krasse Vereinfachung, die für die skizzenhafte Nachzeichnung der großen Linien unvermeidlich ist und die in den Denkgebäuden unserer Religions- und Philosophiegeschichte sowie im Sprachgebrauch des Alltags in der Regel ebenso kraß vorgenommen wird. Wir sollten aber im Hinterkopf behalten, daß es sich dabei um Abstraktionen handelt.
Zu allen Zeiten hat es sehr verschiedene Menschen gegeben, feinfühlige und rohe, mitleidige und stumpfe, gehorsame und ungehorsame, nachdenkliche und zynische usw. in allen Schattierungen (und auch das sind nur vereinfachende Charakterisierungen). Kulturelle Prägungen haben aber immer die einen oder anderen Züge gefördert oder zurückgedrängt, häufig mit äußerst rigiden Methoden. Und die Prägbarkeit des Menschen ist nahezu grenzenlos, besonders wenn sich die Inhalte mit Vorteilen für ihn decken.
Das läßt sich für unser Thema besonders an der spontanen, der Menschengattung nicht minder als die Grausamkeit und der Egoismus angeborenen, Fähigkeit zu Mitleid verdeutlichen.
Ich möchte dazu eine Überlieferung der sibirischen Jugakiren erzählen: In diesem Volk zeigte ein Mädchen Mitleid mit dem von ihrem Bruder erlegten Hirsch. Daraufhin wurde sie von dem Dorfschamanen dazu verurteilt, zwischen zwei Hunden erhängt zu werden, wie Jesus zwischen zwei verachteten »Schächern«, weil ihr Mitgefühl dem Jagdglück Schaden zufüge. Da dieses Volk die Jagd als Nahrungsgrundlage gewählt hatte, diente die modellhafte Hinrichtung des Mädchens offensichtlich dem Zweck, als Warnung und Abschreckung gegen etwa aufkeimende Gefühle der Empathie zu wirken.
Bei aller legendenhaften Verkleidung erkennt man hier deutlich das zweckrationale Motiv. Das Mitleidsverbot gegen Tierleid begegnet uns in vielen Varianten; in unserer Zeit z. B. als Abwertung des Gefühls in Form des Lächerlichmachens, des Vorwurfs der Sentimentalität, der Verrücktheit, bis hin zur gesellschaftlichen Ausgrenzung von Menschen, die »übertriebener« Tierliebe geziehen und allein deswegen als Menschenfeinde verschrieen werden. In manchen Ländern verbüßen Tierbefreier/innen über zehnjährige Haftstrafen – Menschen, die ihr Mitgefühl mit Tieren über das Eigentums»recht« von Tierquälern gestellt haben.
Zweckrationalität steht auch, um das hier vorwegzunehmen, hinter dem Dekret des Kirchenvaters Augustin, wonach wir den Tieren kein Mitgefühl, keine Gerechtigkeit und keine Achtung schulden, was auch von anderen Kirchenlehrern im Mittelalter, besonders von Thomas von Aquin und den Scholastikern beständig wiederholt und gepredigt wurde. Der Zweck ist hier – neben der Verteidigung der liebgewordenen Gewohnheit des Fleischessens -, die Idee von der Einzigartigkeit der menschlichen Seele zu etablieren. Wer durch Gefühle, Gedanken oder Handlungen Tiere in die Nähe des Menschen rückt, versündigt sich daher an dieser Idee. Das gleiche Muster bedienen heute u.a. die Verteidiger der Vivisektion, die immerzu auffordern, die Tiere nicht zu »vermenschlichen«, (während die Grundlage ihrer Tätigkeit ja gerade die Ähnlichkeit ist.)
Aus der Geschichte des Jugakirenmädchens und zahlreichen anderen Legenden und Berichten aus allen Epochen sowie umgekehrt aus den aggressiven Attacken der Vertreter behaupteter oder angenommener alleinmenschlicher Interessen sehen wir aber auch, daß es die andere Seite, das dem Zweckrationalismus entgegengesetzte Fühlen und Denken und Handeln auch schon immer gab, sonst hätte man es nicht bekämpfen müssen. Wann immer wir im Folgenden von »Mensch« oder ganzen Völkern sprechen, sprechen wir von den zur Herrschaft gelangten, dogmatisierten Strömungen.
Der Islam z.B. ist mit Sicherheit als tierverachtend einzustufen, aber vermutlich gibt es in Kairo und überall, wo man am Bayramfest buchstäblich im Blut der in jeder Familie geschlachteten Opfertiere watet, viele heimlich weinende Mädchen und viele mit zusammengebissenen Zähnen ihre Emotionen unterdrückenden Familienväter, die ihre Zweifel haben mögen, ob es wirklich der Ehre Allahs dient, wenn sie dem schreienden Lämmchen oder dem sich erbittert wehrenden Stier den Hals durchschneiden.
Auch »das Tier« gibt es natürlich nicht. Zoologisch gesehen gibt es Millionen Tierarten und unter diesen viele, die biologisch dem Menschentier um ein Vielfaches näherstehen als anderen Tierarten. So hat etwa der Schimpanse mit dem Menschen 98,4 % der Erbsubstanz gemeinsam, ist also genetisch fast ebensoweit wie dieser z. B. von einem wechselwarmen Reptil oder von einem Fisch entfernt. Außerdem ergeben sich psychologisch ganz andere Voraussetzungen gegenüber Haus- Nutz- oder Wildtieren; und eine unübersehbare Bandbreite von individuellen Beziehungen und mehr oder minder zufälligen, religiös, ästhetisch oder durch Nützlichkeit oder Schädlichkeit begründeten Vorlieben bzw.
Abneigungen erschwert zusätzlich die Verallgemeinerung auf den Begriff »Tier«. (Die Abgrenzung zur Pflanze soll uns hier nicht beschäftigen: wir nehmen sie nach dem neurologischen System vor, d.h. nach den uns bekannten schmerzleitenden und inneres Erleben bedingenden Organen.) Für das christliche Abendland, mit dem wir es heute zu tun haben, ist aber die Abwertung der gesamten Tierwelt charakteristisch. Nicht einmal Ochs und Esel, die bei der Geburt des Jesuskindes Zeugnis ablegten und es wärmten, wurden in den exklusiven Club der Besitzer einer unsterblichen Seele aufgenommen und daher nicht mit dem Anspruch auf Würde, Respekt und anständige Behandlung ausgestattet.
• Buddhismus
Aber aus dem verwirrenden Hinduismus erwuchsen auch die leichter zugänglichen Blüten des Buddhismus und des Jainismus. Gautama Buddha lehrte im 6. Jh. v. Chr. die Verwandtschaft alles Lebendigen. Eng damit verbunden ist die Idee der Seelenwanderung, die besagt, daß jedes Tier einmal ein Mensch gewesen ist und wieder ein Mensch werden kann.
Es ist hier nicht der Ort, sich mit der Seelenwanderungsidee auseinanderzusetzen. Nur insoweit ist sie für unser Thema interessant, als sie den erstaunlichsten und fruchtbarsten Ansatz für eine anständige Behandlung der Tiere geliefert hat, und auch die langlebigste. Sie ist auch heute wieder für manche europäischen und amerikanischen Tierschützer/innen die Quelle ihres Engagements, zuweilen auf dem Weg über diverse fragwürdige esoterische Vermittlung oder durch die direkte, zur Zeit sehr aktuelle, Hinwendung zum Buddhismus. Es ist von hier und heute aus schwer zu beurteilen, wie wörtlich die Reise der Seele von Körper zu Körper zu verstehen ist – sicher nicht so, wie es sich einige in ihr Ego verliebte Schauspielerinnen oder Hausfrauen vorstellen, wenn sie glauben, einstmals als ägyptische Prinzessin schon auf dieser Welt geweilt zu haben.
Man hat noch nie gehört, daß jemand sich als Ratte unter den Händen eines Vivisektors erlebt hat. Es wäre vielleicht denkbar, diesen Teil der Lehre Buddhas nach der Art zu interpretieren, die z.B Eugen Drewermann auf die Wunder und Legenden anwendet, die Jesus umranken – nämlich unter der bildhaften Verkleidung den Kern herauszuschälen, der hier in der Einsicht in die tiefe Verwandtschaft, ja Einheit, aller Lebewesen liegen könnte. Wie bewußt die Buddhisten die Tiere in die Achtung vor dem Leben anderer einbeziehen, kann man in Asien z. B. daran sehen, daß auch Touristen vor dem Besuch eines buddhistischen Tempels alle Kleidungsstücke aus Leder, wie Schuhe, Taschen oder Gürtel, vor dem Eingang ablegen müssen.
Von Sina Walden
Quelle : www.animal-rights.de