WAS IST KUNST ?
Sri Chinmoy
Gastrede an der University of Washington zum Thema Kunst
Am 8. und 9.Mai 1980 war Sri Chinmoy an der University of Washington in Seattle als Gastredner zum Thema Kunst eingeladen. Sri Chinmoy hielt den folgenden Vortrag vor den versammelten Mitgliedern der Fakultät und der Studentenschaft am 8.Mai 1980.
Professor Glen Webb, Kunsthistorische Abteilung der School of Art, University of Washington: „Es ist mir die größte Ehre und das größte Vergnügen, unseren Bruder und Lehrer, Sri Chinmoy, im Namen der Kunstfakultät an der University of Washington in Seattle zu begrüßen. Ich möchte auch eine Bekanntmachung des Gouverneurs des Staates Washington verlesen. (Die Bekanntmachung wird verlesen.) Nach dem Vortrag wird es eine kleine Pause geben und danach ein Konzert mit meditativer Musik. Ich lade Sie dazu ein, den restlichen Nachmittag hier zu verbringen. Danke.“
Sri Chinmoy: Lieber Professor Webb, ich möchte Ihnen von ganzem Herzen für Ihre freundlichen Worte danken.
Liebe Professoren-Freunde, liebe Sucher-Freunde, ich will einen kurzen Vortrag zum Thema Kunst halten.
Was ist Kunst?
Was ist Kunst? Kunst ist Einfachheit im Körper, Reinheit im Vitalen, Klarheit im Verstand, Schönheit im Herzen und Unsterblichkeit in der Seele.
Kunst ist zugleich Evolution und Revolution. Evolution ist ein langsamer, stetiger und unbeirrter Flug dem sich immer selbst transzendierenden Jenseits entgegen. Revolution ist ein furchtloser, nimmermüder und unbezahlbarer Kampf gegen die Unwissenheits-Überlegenheit.
Kunst kann eine überraschende Idee sein, ein sich aufschwingendes Ideal, ein erleuchtender Traum, eine erfüllende Wirklichkeit und schließlich ein immerwährender Sieg.
Die Kunst ersinnt und erringt. Heute ersinnt die Kunst ein herzzerreissendes Flehen. Morgen erringt die Kunst ein strahlendes Lächeln.
Was tut der Künstler? Der Künstler beobachtet das äußere Leben. Er entdeckt das innere Leben. Er befreit das menschliche Leben. Er manifestiert das göttliche Leben. Er erfüllt das Höchste Leben. Das äußere Leben ist eine suchende Hoffnung. Das innere Leben ist ein kühnes Versprechen. Das menschliche Leben ist ein mit Ungewissheit behaftetes Experiment. Das göttliche Leben ist eine mit Gewissheit behaftete Erfahrung. Das Höchste Leben ist eine dauerhafte Verwirklichung.
Der Sucher-Künstler hütet heilige Kunst-Geheimnisse. Wenn er während seiner Arbeit in Stille zu Gott betet, fühlt er Gottes Gegenwart über sich. Wenn er meditiert, fühlt er Gottes Gegenwart in den innersten Winkeln seines Herzens. Wenn er seine Kunst als den lebendigen Ausdruck seines gewidmeteten Dienens betrachtet, dann spürt er in sich zu jeder Zeit Gottes Gegenwart. Nimmermüde spürt er Gottes Gegenwart innen wie außen. Wenn er während seiner künstlerischen Arbeit Gott lieben kann und fühlen, dass beide, Gott der Schöpfer und Gott die Schöpfung, wie die beiden Seiten einer Medaille in seiner Kunst anwesend sind, dann sieht und spürt er unmissverständlich, dass Gott ganz ihm gehört, ihm allein. Und wenn der Sucher-Künstler kraft seiner Kunst ein vollkommenes Abbild Gottes wird, dann erklärt er der Welt, dass er nur für Gott die Wahrheit existiert, für Gott den Höchsten Künstler, der die Stille-Höhe seiner eigenen Ewigkeit und die Klanges-Seligkeit seiner eigenen Unendlichkeit ist.
Die Kunst und die Gedanken sind zwei benachbarte Welten. Der Künstler hat leichten Zugang zur Gedankenwelt. Ein kluger Künstler vereinfacht seine alles umständlich machenden Gedanken. Ein törichter Künstler vervielfacht seine ausufernden Gedanken. Ein seelenvoller Künstler macht seine erleuchtenden Gedanken unsterblich.
Kunst ist menschlich und Kunst ist göttlich. In seiner menschlichen Kunst sucht der Künstler nichts als Erfolg. Er will, dass der Rest der Welt weit hinter ihm zurück bleibt. Er will, dass der Rest der Welt ihn für seine grandiosen Leistungen in den Himmel hebt. In seiner göttlichen Kunst sucht der Künstler nichts als Fortschritt. Er will zusammen mit der gesamten Menschheit Fortschritt machen. Er will mit jedem einzelnen Menschen von einem Einsseins-Lächeln begleitet die Straße des Fortschritts entlangmarschieren. Er will nicht eine einzige Seele hinterherhinken sehen. Er will, dass alle schnell, schneller, am schnellsten dem vorherbestimmten Ziel entgegenlaufen. Erfolg ist ein kurzer und sinkender Atem, wohingegen Fortschritt ein langer und ausdauernder Atem ist. Das menschliche in uns sehnt sich nach Erfolg. Das göttliche in uns sehnt sich nach Fortschritt. Es ist unser Fortschritt – langsam, stetig und unbeirrt – der uns in jedem Moment das Königreich himmlischer Seligkeit in uns sehen und fühlen lassen kann.
Kunst ist Schönheit.
Schönheit ist Göttlichkeit.
Göttlichkeit ist Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit kommt in zwei Formen zu uns. Oder Sie können sagen, wir nähern uns der Wirklichkeit auf zwei Weisen an: entweder mit unserem begierdegebundenen Leben oder mit unserem strebsamkeitsfreien Leben. Jeder einzelne Mensch besitzt beide Aspekte, doch wenn er in einen Sucher erwächst, meidet er das Begierde-Leben und nimmt das Strebsamkeits-Leben an, um es willkommen zu heißen. Was er in seinem Begierde-Leben wollte, war die Liebe zur Macht. Was er nun in seinem Strebsamkeits-Leben will, ist die Macht der Liebe. Die Macht der Liebe verwandelt den Sucher, erleuchtet ihn und macht ihn unsterblich. Aber die Liebe zur Macht zerstört seine inneren Fähigkeiten und seine ursprüngliche Sehnsucht nach Wahrheit, Schönheit, Licht und Seligkeit.
Sich selbst zu verschenken ist die größte aller Künste. Sich selbst zu verschenken bedeutet zugleich universelle Einsseins-Entdeckung und transzendentale Fülle-Meisterschaft.
Wer dient, wer sich selbst rückhaltlos und bedingungslos verschenkt, der verdient sich alles, was die Welt hat und ist, mehr noch, alles, was Gott selbst hat und ist. Während er dient, schenkt er der weiten Welt Vollkommenheits-Freude, und er verdient sich nichts geringeres als Erfüllungs-Frieden. Freude erweckt den schlafenden Menschen in uns. Frieden erfüllt den hungrigen Menschen in uns.
Der menschliche Künstler, der göttliche Künstler und der Höchste Künstler. Der menschliche Künstler hat sehr häufig kein spezielles Ziel oder kein hohes, erhabenes Ideal. Der göttliche Künstler sieht das Ziel innen und außen, aber mitunter ist es für ihn schwer erreichbar. Es ist bisweilen schwierig für ihn, das Ziel, das er ja überall um sich herum sieht, zu manifestieren. Er kann das Ziel tief in sich entdecken, aber er findet es schwierig, es hervorzubringen und zu manifestieren, weil es den Empfangenden an Empfänglichkeit mangelt. Der Höchste Künstler ist ein Ozean der Weisheit. Die Weisheit der Unendlichkeit steht ihm jederzeit zur Verfügung. Er besitzt alle Antworten, natürlich vorausgesetzt, dass wir ihm die richtigen Fragen stellen. Wenn wir tief in uns gehen, machen wir die Entdeckung, dass es im gesamten Universum nur eine einzige Frage gibt und geben kann, nämlich: „Hast du?“ Die sofortige Antwort lautet: „Ich habe nicht nur, sondern bin auf ewig. Ich habe nicht nur die Höchste Wirklichkeit, sondern bin auf ewig diese Höchste Wirklichkeit. Ich bin auf ewig der Mensch, das aufsteigende Flehen, und Gott, das herabsteigende Lächeln.“ Das ist es, was der Höchste Künstler ist: der Mensch, das aufsteigende Flehen, und Gott, das herabsteigende Lächeln. Er hat auch die Höchste Wahrheit entdeckt, dass der Mensch der sich entwickelnde Gott ist, und Gott der vervollkommnete Mensch.
Kunst ist nicht zuletzt Begabung. Begabung ist etwas, das unser Verstand erklären muss, unser Herz erlangen muss und unsere Seele erfahren muss. Wenn wir keine Begabungen haben, dann lasst uns versuchen, weihevoll zu sein. In der nahen oder fernen Zukunft wird unsere Weihung in Begabungen erwachsen.