Homosexualität in China
Im alten China war gleichgeschlechtliche Liebe weit verbreitet – zumindest wenn man literarischen Überlieferungen Glauben schenken kann – und hatte keinen negativen Stellenwert an und für sich. Kritisiert wurde sie jedoch beispielsweise bei dem Legalisten Han Feizi, wenn damit persönliche Begünstigungen verbunden waren. Ob es die sogenannte Öffnung zum Westen im 18. Jahrhundert war, die zur Übernahme homophober Ideologien und Gesetze führte, wie es von einigen Aktivisten in Hong Kong behauptet wird, oder innerchinesische Veränderungen des 19. Jahrhunderts, die die selbstgewählte monogame heterosexuelle Beziehung als einzig gültige Beziehungsform darstellten, ist bis heute umstritten. Heute stellt sich die Situation von Lesben und Schwulen in der Volksrepublik China, aber auch in Hong Kong, Macao und Taiwan als sehr ambivalent dar. Neben fortdauernden Repressionen, weniger von staatlicher Seite als von Familie und Gesellschaft, gibt es seit einigen Jahrzehnten nachhaltige Liberalisierungsprozesse, die in allen chinesischen Gesellschaften zur vollständigen Entkriminalisierung von Homosexualität geführt haben, wenn es dann wie in Hong Kong jemals eindeutige Bestimmungen gegeben hatte. In Taiwan ist die Emanzipation der Tongzhi-Community dabei am weitesten fortgeschritten.
Chinesische Begriffe
Die hochsprachlichen Begriffe für gleichgeschlechtliche Liebe lauteten einst „die Leidenschaft des abgeschnittenen Ärmels“ und „der geteilte Pfirsich“ (分桃). Andere, weniger obskure Ausdrücke waren „männlicher Trend/Wind“ (男風), „verbundene Brüder“ (香火兄弟), und „Männliche-Drachen-Vorliebe“ (龍陽癖).
Heutzutage ist Tongzhi (chin. 同志, Tóngzhì ) mit der ursprünglichen Bedeutung „Genosse/Kamerad“ der geläufigste Ausdruck im Chinesischen. Eine Unterscheidung nach männlich Nán Tōngzhī (男同志) oder Nǚ Tōngzhī (女同志) ist nicht notwendig. Bei dem Versuch, den Ausdruck queer ins Chinesische zu übertragen, schufen Mai Ke und Lin Yihua den Begriff tongzhi, als westliche queer-Filme 1988 anlässlich des Filmfestivals Queer Cinema gezeigt wurden. Das Wort selbst leitet sich von dem bekannten Zitat von Sun Yixian ab: „Die Revolution hat noch nicht gesiegt, Genossen lasst uns zusammen kämpfen“ (geming reng wei chenggong, tongzhi reng xu nuli 革命仍未成功, 同志仍需努力). Der Begriff ist ein Kopfreim auf tongxinglian (同性戀), dem sexualwissenschaftlichen Terminus für Homosexualität bzw. Homosexuelle. Bei Tongzhi handelt es sich auch um die offizielle Anredeform unter Mitgliedern der Kommunistischen Partei Chinas, was zu Widerständen und Missverständnissen beim Auftauchen dieses 90er-Jahre-Begriffes auf das Festland geführt hat.
Im Kantonesischen ist daneben auch das Wort Gei (基) gebräuchlich, welches sich an den englischen Begriff Gay anlehnt. Es wird jedoch manchmal als verletzend empfunden – insbesondere wenn es von Heterosexuellen benutzt wird. Ein weiterer, nicht allgemein verbreiteter Slang-Ausdruck ist Boli (玻璃, Pinyin: bōlí, Kristall oder Glas). Unter schwulen Studenten gewinnt der Neologismus Datong (大同) an Popularität. Datong steht im Chinesischen eigentlich für die Utopie der sozialen „großen Gleichheit“, steht hier aber als Kürzel für daxuesheng tongxinglian (homosexuelle Studenten). Nicht nur in Taiwan erfreut sich zunehmend auch Ku’er einiger Beliebtheit. Es entstand in Anlehnung an den englischen Begriff Queer, der durch die Rezeption der aus den USA kommenden Queer Theory international bekannt geworden ist.
In Taiwan nennen sich Lesben selbst Lazi (拉子) or Lala (拉拉). Es handelt sich um Abkürzungen des englischen Begriffes „Lesbian“.
Religion
Alle größeren Religionen im alten China haben eine Art Kodex, der traditionell als gegen Homosexualität gerichtet interpretiert wurde. Zum Beispiel kennt der Konfuzianismus die Regel, dass ein Mann sich gemäß der hergebrachten männlichen Geschlechterrolle verhalten sollte und in gleicher Weise die Frauen entsprechend der weiblichen. Daher ist Transvestismus ein Vergehen gegen das konfuzianische Naturrecht.
Es gibt mehrere historische Berichte von Kaisern, die selbst Frauenkleidung anlegten, und dies wurde immer als ein schlechtes Zeichen gedeutet. Kinder zu zeugen (besonders Söhne) gehört zu den zentralen Aufgaben eines Mannes in der traditionellen chinesischen Gesellschaft. Somit verletzt ein Mann, der nur männliche Liebhaber hat, seine Pflichten. Der Taoismus betont die Balance zwischen Yin und Yang. Ein mann-männliche Beziehung gilt als eine Yang-Yang-Beziehung und ist daher unausgewogen und destruktiv.
Im Buddhismus ist sexuelle Begierde (unabhängig davon, ob sie homosexueller oder heterosexueller Art ist) etwas, das eine Seele daran hindert, ins Nirwana zu gelangen. Deshalb gilt sie als vermeidenswert.
Aber auf der anderen Seite verurteilt keine der größeren chinesischen Religionen Homosexualität als eine Sünde, wie es viele christliche Kirchen tun. Gemessen am Sündenverständnis der christlichen Kultur, schließen die sündigen Taten im Verhaltenskodex des Konfuzianismus Homosexualität nicht ein. Solange ein Mann seine Pflicht erfüllt und Kinder in die Welt setzt, ist es seine Privatsache, ob er nebenher auch männliche Liebhaber hat.
Dies trifft auch auf den Taoismus zu. Obwohl jeder Mann als Yang (maskulin) betrachtet wird, trägt er ebenso etwas Yin (Weibliches) in sich. Einige Männer können viel Yin besitzen. Deshalb wird die Anwesenheit von etwas femininem Verhalten bei Männern nicht als unnatürlich betrachtet, sondern entspricht dem Gleichgewicht von Yin und Yang in einem Menschen. Es ist auch bemerkenswert, dass viele taoistische Götter und Göttinnen entweder alleine oder zusammen mit ebenbürtigen Gottheiten des gleichen Geschlechts leben. Ein außerordentlich bekanntes Beispiel sind Shanshen (der Berggott) und Tudi (der Erdgott). Jeder Ort hat einen Shanshen und Tudi, die miteinander leben. Faszinierender ist jedoch, dass sie sich, wie etwa in dem klassischen Roman Die Reise nach Westen, manchmal als eine alte Frau und ein alter Mann manifestieren.
Das alte China
Junge Männer im erotischen Spiel (Handrolle aus Peking, spätes 19. Jh.)
Homosexualität ist in China seit antiker Zeit belegt. Laut Ji Yun, einem Gelehrten der Qing-Dynastie, hatte schon Huáng Dì, der legendäre Kaiser und Begründer der chinesischen Kultur, männliche Geliebte. Das ist natürlich wenig vertrauenswürdig, da es unklar ist, ob es überhaupt eine Person mit dem Namen Huang Di gegeben hat. Eine der im alten China gebräuchlichen literarischen Formeln, nämlich yútáo duànxiù (余桃断袖), spielt gleich auf zwei bekannte Herrscher-Anekdoten an. Jene über Yútáo oder den „linken Teil des Pfirsichs“ ist im Hanfeizi festgehalten. Sie handelt von Mi Zixia (彌子瑕), einem schönen Jüngling, der von Fürst Ling von Wei (衛靈公) verehrt wurde. Mi teilte einmal einen bereits angebissenen, aber sehr delikaten Pfirsich mit dem Fürsten. Letzterer war von dieser Geste sehr gerührt. Aber als Mi im Alter seine Schönheit verloren hatte, schaute der Fürst auf dieses Ereignis zurück und warf seinem ehemaligen Geliebten vor, damals unehrlich gewesen zu sein [1]. Duànxiù oder „den Ärmel abschneiden“ bezieht sich dagegen auf eine Geschichte über Kaiser Ai von Han, der sich, um seine männliche Konkubine Dongxian (董賢) nicht zu wecken, den Ärmel, auf dem Dongxian schlief, kurzerhand abgeschnitten hatte.
Der Gelehrte Pan Guangdan (潘光旦) kam zu dem Schluss, dass fast jeder Kaiser in der Han-Dynastie einen oder mehrere männliche Sexualpartner hatte. Es gibt in einigen Geschichtsbüchern auch Beschreibungen von lesbischen Beziehungen. Man glaubt, dass Homosexualität in der Song-, Ming- und Qing-Dynastie sehr populär gewesen ist. Homosexuelle Handlungen stießen in China, gemessen an der europäischen Sodomiterverfolgung, auf nur wenig Diskriminierung.
Gleichgeschlechtliche Liebe wurde auch in der chinesischen Kunst zelebriert, und vieles davon hat die Bücherverbrennungen während der Kulturrevolution überdauert. Obwohl man von keinen großen Statuen mehr weiß, lassen sich in Privatkollektion noch viele Handrollen und Seidengemälde finden [2].
1944 publizierte ein Gelehrter namens Sun Cizhou ein Werk, in dem er feststellte, dass einer der berühmtesten alten chinesischen Dichter, Qu Yuan, ein Geliebter seines Königs war. Sun zitierte aus der Dichtung von Qu Yuan, um seine Behauptung zu beweisen. In seinem wichtigsten Werk Li Sao (Die Sorge des Abschniednehmens), nannte Qu Yuan sich selbst einen hübschen Mann (bzw. Frau, mei ren). Ein Wort, das er benutzte, um seinen König zu beschreiben, wurde damals von Frauen verwandt, um ihre Liebhaber zu charaktisieren.
Das erste Gesetz gegen mann-männlichen Beischlaf wurde 1740 verabschiedet. Es gibt keine historischen Aufzeichnungen, um zu erfahren, wie effektiv es durchgesetzt wurde. Verheerender war für die chinesische Tradition der Männerliebe ironischerweise die Aufklärung, die im Rahmen der Kampagne zur Selbststärkung einsetzte, als China zusammen mit westlicher Wissenschaft und Philosophie auch die Homophobie als moderne Denkweise importierte.